Kant: AA VIII, Über den Gemeinspruch Das ... , Seite 284 |
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01 | uns nicht vorherginge. Daher das alte Lied: daß dieses Gefühl, mithin | ||||||
02 | eine Lust, die wir uns zum Zwecke machen, die erste Ursache der Willensbestimmung, | ||||||
03 | folglich die Glückseligkeit (wozu jene als Element gehöre) | ||||||
04 | doch den Grund aller objectiven Nothwendigkeit zu handeln, folglich aller | ||||||
05 | Verpflichtung ausmache, unter die vernünftelnden Tändeleien gehört. | ||||||
06 | Kann man nämlich bei Anführung einer Ursache zu einer gewissen | ||||||
07 | Wirkung nicht aufhören zu fragen, so macht man endlich die Wirkung | ||||||
08 | zur Ursache von sich selbst. | ||||||
09 | Jetzt komme ich auf den Punkt, der uns hier eigentlich beschäftigt: | ||||||
10 | nämlich das vermeintlich in der Philosophie sich widerstreitende Interesse | ||||||
11 | der Theorie und der Praxis durch Beispiele zu belegen und zu prüfen. | ||||||
12 | Den besten Belag hiezu giebt Hr. G. in seiner genannten Abhandlung. | ||||||
13 | Zuerst sagt er (indem er von dem Unterschiede, den ich zwischen einer Lehre | ||||||
14 | finde, wie wir glücklich, und derjenigen, wie wir der Glückseligkeit | ||||||
15 | würdig werden sollen, spricht): "Ich für mein Theil gestehe, daß ich | ||||||
16 | diese Theilung der Ideen in meinem Kopfe sehr wohl begreife, daß ich | ||||||
17 | aber diese Theilung der Wünsche und Bestrebungen in meinem Herzen | ||||||
18 | nicht finde; daß es mir sogar unbegreiflich ist, wie irgend ein Mensch sich | ||||||
19 | bewußt werden kann, sein Verlangen nach Glückseligkeit selbst rein abgesondert | ||||||
20 | und also die Pflicht ganz uneigennützig ausgeübt zu haben." | ||||||
21 | Ich antworte zuvörderst auf das letztere. Nämlich ich räume gern | ||||||
22 | ein, daß kein Mensch sich mit Gewißheit bewußt werden könne, seine Pflicht | ||||||
23 | ganz uneigennützig ausgeübt zu haben: denn das gehört zur inneren | ||||||
24 | Erfahrung, und es würde zu diesem Bewußtsein seines Seelenzustandes | ||||||
25 | eine durchgängig klare Vorstellung aller sich dem Pflichtbegriffe durch | ||||||
26 | Einbildungskraft, Gewohnheit und Neigung beigesellenden Nebenvorstellungen | ||||||
27 | und Rücksichten gehören, die in keinem Falle gefordert werden | ||||||
28 | kann; auch überhaupt kann das Nichtsein von Etwas (mithin auch nicht | ||||||
29 | von einem ingeheim gedachten Vortheil) kein Gegenstand der Erfahrung | ||||||
30 | sein. Daß aber der Mensch seine Pflicht ganz uneigennützig ausüben | ||||||
31 | solle und sein Verlangen nach Glückseligkeit völlig vom Pflichtbegriffe absondern | ||||||
32 | müsse, um ihn ganz rein zu haben: dessen ist er sich mit der | ||||||
33 | größten Klarheit bewußt; oder, glaubte er nicht es zu sein, so kann von | ||||||
34 | ihm gefordert werden, daß er es sei, so weit es in seinem Vermögen ist: | ||||||
35 | weil eben in dieser Reinigkeit der wahre Werth der Moralität anzutreffen | ||||||
36 | ist, und er muß es also auch können. Vielleicht mag nie ein Mensch seine | ||||||
37 | erkannte und von ihm auch verehrte Pflicht ganz uneigennützig (ohne Beimischung | ||||||
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