Kant: AA VIII, Über das Mißlingen ... , Seite 270 |
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01 | der Denkungsart (vornehmlich wenn man ihr die Offenherzigkeit erläßt), | ||||||
02 | das Kleinste ist, was man zu einem guten Charakter nur immer | ||||||
03 | fordern kann, und daher nicht abzusehen ist, worauf sich denn jene Bewunderung | ||||||
04 | gründe, die wir einem solchen Gegenstande widmen: es müßte | ||||||
05 | denn sein, daß die Aufrichtigkeit die Eigenschaft wäre, von der die menschliche | ||||||
06 | Natur gerade am weitesten entfernt ist. Eine traurige Bemerkung! | ||||||
07 | Indem eben durch jene alle übrige Eigenschaften, sofern sie auf Grundsätzen | ||||||
08 | beruhen, allein einen innern wahren Werth haben können. Ein | ||||||
09 | contemplativer Misanthrop (der keinem Menschen Böses wünscht, wohl | ||||||
10 | aber geneigt ist von ihnen alles Böse zu glauben) kann nur zweifelhaft | ||||||
11 | sein, ob er die Menschen hassens= oder ob er sie eher verachtungswürdig | ||||||
12 | finden solle. Die Eigenschaften, um derentwillen er sie für die | ||||||
13 | erste Begegnung qualificirt zu sein urtheilen würde, sind die, durch welche | ||||||
14 | sie vorsätzlich schaden. Diejenige Eigenschaft aber, welche sie ihm | ||||||
15 | eher der letztern Abwürdigung auszusetzen scheint, könnte keine andere | ||||||
16 | sein, als ein Hang, der an sich böse ist, ob er gleich Niemanden | ||||||
17 | schadet: ein Hang zu demjenigen, was zu keiner Absicht als Mittel gebraucht | ||||||
18 | werden soll, was also objectiv zu nichts gut ist. Das erstere Böse | ||||||
19 | wäre wohl kein anderes, als das der Feindseligkeit (gelinder gesagt, | ||||||
20 | Lieblosigkeit); das zweite kann kein anderes sein als Lügenhaftigkeit | ||||||
21 | (Falschheit, selbst ohne alle Absicht zu schaden). Die erste Neigung | ||||||
22 | hat eine Absicht, deren Gebrauch doch in gewissen andern Beziehungen erlaubt | ||||||
23 | und gut sein kann, z. B. die Feindseligkeit gegen unbesserliche Friedensstörer. | ||||||
24 | Der zweite Hang aber ist der zum Gebrauch eines Mittels | ||||||
25 | (der Lüge), das zu nichts gut ist, zu welcher Absicht es auch sei, weil es | ||||||
26 | an sich selbst böse und verwerflich ist. In der Beschaffenheit des Menschen | ||||||
27 | von der ersten Art ist Bosheit, womit sich doch noch Tüchtigkeit zu | ||||||
28 | guten Zwecken in gewissen äußern Verhältnissen verbinden läßt, und sie | ||||||
29 | sündigt nur in den Mitteln, die doch auch nicht in aller Absicht verwerflich | ||||||
30 | sind. Das Böse von der letztern Art ist Nichtswürdigkeit, wodurch | ||||||
31 | dem Menschen aller Charakter abgesprochen wird. - Ich halte mich hier | ||||||
32 | hauptsächlich an der tief im Verborgnen liegenden Unlauterkeit, da der | ||||||
33 | Mensch sogar die innern Aussagen vor seinem eignen Gewissen zu verfälschen | ||||||
34 | weiß. Um desto weniger darf die äußere Betrugsneigung befremden; | ||||||
35 | es müßte denn dieses sein, daß, obzwar ein jeder von der Falschheit | ||||||
36 | der Münze belehrt ist, mit der er Verkehr treibt, sie sich dennoch immer | ||||||
37 | so gut im Umlaufe erhalten kann. | ||||||
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