|  |  | Kant: AA VIII, Was heißt: Sich im Denken ... , Seite 143 |  |  |  | 
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|  | 01 | unzweideutig beweisen kann. Vom Dasein des höchsten Wesens kann also |  |  |  | 
|  | 02 | niemand durch irgend eine Anschauung zuerst überzeugt werden; der |  |  |  | 
|  | 03 | Vernunftglaube muß vorhergehen, und alsdann könnten allenfalls gewisse |  |  |  | 
|  | 04 | Erscheinungen oder Eröffnungen Anlaß zur Untersuchung geben, ob wir |  |  |  | 
|  | 05 | das, was zu uns spricht oder sich uns darstellt, wohl befugt sind für eine |  |  |  | 
|  | 06 | Gottheit zu halten, und nach befinden jenen Glauben bestätigen. |  |  |  | 
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|  | 07 | Wenn also der Vernunft in Sachen, welche übersinnliche Gegenstände |  |  |  | 
|  | 08 | betreffen, als das Dasein Gottes und die künftige Welt, das ihr zustehende |  |  |  | 
|  | 09 | Recht zuerst zu sprechen bestritten wird: so ist aller Schwärmerei, Aberglauben, |  |  |  | 
|  | 10 | ja selbst der Atheisterei eine weite Pforte geöffnet. Und doch |  |  |  | 
|  | 11 | scheint in der jacobischen und mendelssohnischen Streitigkeit alles auf |  |  |  | 
|  | 12 | diesen Umsturz, ich weiß nicht recht, ob bloß der Vernunfteinsicht und |  |  |  | 
|  | 13 | des Wissens (durch vermeinte Stärke in der Speculation), oder auch sogar |  |  |  | 
|  | 14 | des Vernunftglaubens, und dagegen auf die Errichtung eines |  |  |  | 
|  | 15 | andern Glaubens, den sich ein jeder nach seinem Belieben machen kann, |  |  |  | 
|  | 16 | angelegt. Man sollte beinahe auf das letztere schließen, wenn man den |  |  |  | 
|  | 17 | spinozistischen Begriff von Gott als den einzigen mit allen Grundsätzen |  |  |  | 
|  | 18 | der Vernunft stimmigen*) und dennoch verwerflichen Begriff aufgestellt |  |  |  | 
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|  |  | *) Es ist kaum zu begreifen, wie gedachte Gelehrte in der Kritik der  reinen Vernunft Vorschub zum Spinozism finden konnten. Die Kritik beschneidet  dem Dogmatism gänzlich die Flügel in Ansehung der Erkenntniß übersinnlicher  Gegenstände, und der Spinozism ist hierin so dogmatisch, daß er sogar  mit dem Mathematiker in Ansehung der Strenge des Beweises wetteifert. Die  Kritik beweiset: daß die Tafel der reinen Verstandesbegriffe alle Materialien des  reinen Denkens enthalten müsse; der Spinozism spricht von Gedanken, die doch  selbst denken, und also von einem Accidens, das doch zugleich für sich als Subject  existiert: ein Begriff, der sich im menschlichen Verstande gar nicht findet und sich auch in  ihn nicht bringen läßt. Die Kritik zeigt: es reiche noch lange nicht zur Behauptung der  Möglichkeit eines selbst gedachten Wesens zu, daß in seinem Begriffe nichts Widersprechendes  sei (wiewohl es alsdann nöthigenfalls allerdings erlaubt bleibt, diese Möglichkeit  anzunehmen); der Spinozism giebt aber vor, die Unmöglichkeit eines Wesens  einzusehen, dessen Idee aus lauter reinen Verstandesbegriffen besteht, wovon man nur  alle Bedingungen der Sinnlichkeit abgesondert hat, worin also niemals ein Widerspruch  angetroffen werden kann, und vermag doch diese über alle Gränzen gehende Anmaßung  durch gar nichts zu unterstützen. Eben um dieser Willen führt der Spinozism gerade  zur Schwärmerei. Dagegen giebt es kein einziges sicheres Mittel alle Schwärmerei  mit der Wurzel auszurotten, als jene Gränzbestimmung des reinen Vernunftvermögens.  Eben so findet ein anderer Gelehrter in der Kritik d. r. Vernunft eine  Skepsis, obgleich die Kritik eben darauf hinausgeht, etwas Gewisses und Bestimmtes  [Seitenumbruch] in Ansehung des Umfanges unserer Erkenntniß a priori fest zu setzen. Imgleichen  eine Dialektik in den kritischen Untersuchungen, welche doch darauf angelegt  sind, die unvermeidliche Dialektik, womit die allerwärts dogmatisch geführte reine Vernunft  sich selbst verfängt und verwickelt, aufzulösen und auf immer zu vertilgen. Die  Neuplatoniker, die sich Eklektiker nannten, weil sie ihre eigenen Grillen allenthalben  in älteren Autoren zu finden wußten, wenn sie solche vorher hineingetragen  hatten, verfuhren gerade eben so; es geschieht also in so fern nichts Neues  unter der Sonne. |  |  |  | 
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