Kant: AA VIII, Was heißt: Sich im Denken ... , Seite 142 |
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01 | Ein reiner Vernunftglaube ist also der Wegweiser oder Compaß, wodurch | ||||||
02 | der speculative Denker sich auf seinen Vernunftstreifereien im Felde | ||||||
03 | übersinnlicher Gegenstände orientiren, der Mensch von gemeiner, doch | ||||||
04 | (moralisch) gesunder Vernunft aber seinen Weg sowohl in theoretischer als | ||||||
05 | praktischer Absicht dem ganzen Zwecke seiner Bestimmung völlig angemessen | ||||||
06 | vorzeichnen kann; und dieser Vernunftglaube ist es auch, der | ||||||
07 | jedem anderen Glauben, ja jeder Offenbarung zum Grunde gelegt | ||||||
08 | werden muß. | ||||||
09 | Der Begriff von Gott und selbst die Überzeugung von seinem | ||||||
10 | Dasein kann nur allein in der Vernunft angetroffen werden, von ihr | ||||||
11 | allein ausgehen und weder durch Eingebung, noch durch eine ertheilte | ||||||
12 | Nachricht von noch so großer Autorität zuerst in uns kommen. Widerfährt | ||||||
13 | mir eine unmittelbare Anschauung von einer solchen Art, als sie mir | ||||||
14 | die Natur, so weit ich sie kenne, gar nicht liefern kann: so muß doch ein | ||||||
15 | Begriff von Gott zur Richtschnur dienen, ob diese Erscheinung auch mit | ||||||
16 | allem dem übereinstimme, was zu dem Charakteristischen einer Gottheit erforderlich | ||||||
17 | ist. Ob ich gleich nun gar nicht einsehe, wie es möglich sei, da | ||||||
18 | irgend eine Erscheinung dasjenige auch nur der Qualität nach darstelle, | ||||||
19 | was sich immer nur denken, niemals aber anschauen läßt: so ist doch | ||||||
20 | wenigstens so viel klar, daß, um nur zu urtheilen, ob das Gott sei, was | ||||||
21 | mir erscheint, was auf mein Gefühl innerlich oder äußerlich wirkt, ich ihn | ||||||
22 | an meinen Vernunftbegriff von Gott halten und darnach prüfen müsse, | ||||||
23 | nicht ob er diesem adäquat sei, sondern bloß ob er ihm nicht widerspreche. | ||||||
24 | Eben so: wenn auch bei allem, wodurch er sich mir unmittelbar entdeckte, | ||||||
25 | nichts angetroffen würde, was jenem Begriffe widerspräche: so würde | ||||||
26 | dennoch diese Erscheinung, Anschauung, unmittelbare Offenbarung, oder | ||||||
27 | wie man sonst eine solche Darstellung nennen will, das Dasein eines | ||||||
28 | Wesens niemals beweisen, dessen Begriff (wenn er nicht unsicher bestimmt | ||||||
29 | und daher der Beimischung alles möglichen Wahnes unterworfen werden | ||||||
30 | soll) Unendlichkeit der Größe nach zur Unterscheidung von allem Geschöpfe | ||||||
31 | fordert, welchem Begriffe aber gar keine Erfahrung oder Anschauung | ||||||
32 | adäquat sein, mithin auch niemals das Dasein eines solchen Wesens | ||||||
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