Kant: AA VIII, Was heißt: Sich im Denken ... , Seite 136 |
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01 | Endlich kann ich diesen Begriff noch mehr erweitern, da er denn in | ||||||
02 | dem Vermögen bestände, sich nicht bloß im Raume, d. i. mathematisch, | ||||||
03 | sondern überhaupt im Denken, d. i. logisch, zu orientiren. Man kann | ||||||
04 | nach der Analogie leicht errathen, daß dieses ein Geschäft der reinen Vernunft | ||||||
05 | sein werde, ihren Gebrauch zu lenken, wenn sie, von bekannten | ||||||
06 | Gegenständen (der Erfahrung) ausgehend, sich über alle Grenzen der Erfahrung | ||||||
07 | erweitern will und ganz und gar kein Object der Anschauung, | ||||||
08 | sondern bloß Raum für dieselbe findet; da sie alsdann gar nicht mehr im | ||||||
09 | Stande ist, nach objectiven Gründen der Erkenntniß, sondern lediglich | ||||||
10 | nach einem subjectiven Unterscheidungsgrunde in der Bestimmung ihres | ||||||
11 | eigenen Urtheilsvermögens ihre Urtheile unter eine bestimmte Maxime | ||||||
12 | zu bringen*). Dies subjective Mittel, das alsdann noch übrig bleibt, ist | ||||||
13 | kein anderes, als das Gefühl des der Vernunft eigenen Bedürfnisses. | ||||||
14 | Man kann vor allem Irrthum gesichert bleiben, wenn man sich da nicht | ||||||
15 | unterfängt zu urtheilen, wo man nicht so viel weiß, als zu einem bestimmenden | ||||||
16 | Urtheile erforderlich ist. Also ist Unwissenheit an sich die | ||||||
17 | Ursache zwar der Schranken, aber nicht der Irrthümer in unserer Erkenntniß. | ||||||
18 | Aber wo es nicht so willkürlich ist, ob man über etwas bestimmt | ||||||
19 | urtheilen wolle oder nicht, wo ein wirkliches Bedürfniß und wohl gar | ||||||
20 | ein solches, welches der Vernunft an sich selbst anhängt, das Urtheilen | ||||||
21 | nothwendig macht, und gleichwohl Mangel des Wissens in Ansehung der | ||||||
22 | zum Urtheil erforderlichen Stücke uns einschränkt: da ist eine Maxime | ||||||
23 | nöthig, wornach wir unser Urtheil fällen; denn die Vernunft will einmal | ||||||
24 | befriedigt sein. Wenn denn vorher schon ausgemacht ist, daß es hier keine | ||||||
25 | Anschauung vom Objecte, nicht einmal etwas mit diesem Gleichartiges | ||||||
26 | geben könne, wodurch wir unseren erweiterten Begriffen den ihnen angemessenen | ||||||
27 | Gegenstand darstellen und diese also ihrer realen Möglichkeit | ||||||
28 | wegen sichern könnten: so wird für uns nichts weiter zu thun übrig | ||||||
29 | sein, als zuerst den Begriff, mit welchem wir uns über alle mögliche Erfahrung | ||||||
30 | hinaus wagen wollen, wohl zu prüfen, ob er auch von Widersprüchen | ||||||
31 | frei sei; und dann wenigstens das Verhältniß des Gegenstandes | ||||||
32 | zu den Gegenständen der Erfahrung unter reine Verstandesbegriffe | ||||||
33 | zu bringen, wodurch wir ihn noch gar nicht versinnlichen, aber doch | ||||||
34 | etwas Übersinnliches wenigstens tauglich zum Erfahrungsgebrauche | ||||||
*) Sich im Denken überhaupt orientiren, heißt also: sich bei der Unzulänglichkeit der objectiven Principien der Vernunft im Fürwahrhalten nach einem subjectiven Princip derselben bestimmen. | |||||||
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