Kant: AA VIII, Was heißt: Sich im Denken ... , Seite 134 |
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01 | gesunde Vernunft bei der Zweideutigkeit, worin er die Ausübung dieses | ||||||
02 | Vermögens im Gegensatze mit der Speculation ließ, in Gefahr gerathen | ||||||
03 | würde, zum Grundsatze der Schwärmerei und der gänzlichen Entthronung | ||||||
04 | der Vernunft zu dienen? Und doch geschah dieses in der Mendelssohn | ||||||
05 | und Jacobi'schen Streitigkeit vornehmlich durch die nicht unbedeutenden | ||||||
06 | Schlüsse des scharfsinnigen Verfassers der Resultate*); wiewohl ich | ||||||
07 | keinem von beiden die Absicht, eine so verderbliche Denkungsart in Gang | ||||||
08 | zu bringen, beilegen will, sondern des letzteren Unternehmung lieber als | ||||||
09 | argumentum ad hominem ansehe, dessen man sich zur bloßen Gegenwehr | ||||||
10 | zu bedienen wohl berechtigt ist, um die Blöße, die der Gegner giebt, zu | ||||||
11 | dessen Nachtheil zu benutzen. Andererseits werde ich zeigen: daß es in der | ||||||
12 | That bloß die Vernunft, nicht ein vorgeblicher geheimer Wahrheitssinn, | ||||||
13 | keine überschwengliche Anschauung unter dem Namen des Glaubens, | ||||||
14 | worauf Tradition oder Offenbarung ohne Einstimmung der Vernunft gepfropft | ||||||
15 | werden kann, sondern, wie Mendelssohn standhaft und mit gerechtem | ||||||
16 | Eifer behauptete, bloß die eigentliche reine Menschenvernunft sei, wodurch | ||||||
17 | er es nöthig fand und anpries, sich zu orientiren; obzwar freilich hiebei | ||||||
18 | der hohe Anspruch des speculativen Vermögens derselben, vornehmlich ihr | ||||||
19 | allein gebietendes Ansehen (durch Demonstration) wegfallen und ihr, so | ||||||
20 | fern sie speculativ ist, nichts weiter als das Geschäft der Reinigung des | ||||||
21 | gemeinen Vernunftbegriffs von Widersprüchen und die Vertheidigung | ||||||
22 | gegen ihre eigenen sophistischen Angriffe auf die Maximen einer gesunden | ||||||
23 | Vernunft übrig gelassen werden muß. - Der erweiterte und genauer | ||||||
24 | bestimmte Begriff des Sichorientirens kann uns behülflich sein, | ||||||
25 | die Maxime der gesunden Vernunft in ihren Bearbeitungen zur Erkenntniß | ||||||
26 | übersinnlicher Gegenstände deutlich darzustellen. | ||||||
27 | Sich orientiren heißt in der eigentlichen Bedeutung des Worts: | ||||||
28 | aus einer gegebenen Weltgegend (in deren vier wir den Horizont eintheilen) | ||||||
29 | die übrigen, namentlich den Aufgang zu finden. Sehe ich nun die Sonne | ||||||
30 | am Himmel und weiß, daß es nun die Mittagszeit ist, so weiß ich Süden, | ||||||
31 | Westen, Norden und Osten zu finden. Zu diesem Behuf bedarf ich aber | ||||||
32 | durchaus das Gefühl eines Unterschiedes an meinem eigenen Subject, | ||||||
33 | nämlich der rechten und linken Hand. Ich nenne es ein Gefühl: weil | ||||||
*) Jacobi, Briefe über die Lehre des Spinoza. Breslau 1785. - Jacobi wider Mendelssohns Beschuldigung betreffend die Briefe über die Lehre des Spinoza. Leipzig 1786. - Die Resultate der Jacobischen und Mendelssohnschen Philosophie, kritisch untersucht von einem Freiwilligen. Ebendas. | |||||||
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