Kant: AA VIII, Beantwortung der Frage: Was ist ... , Seite 037

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Der Offizier sagt: räsonnirt nicht, sondern exercirt! Der Finanzrath:      
  02 räsonnirt nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: räsonnirt nicht, sondern      
  03 glaubt! (Nur ein einziger Herr in der Welt sagt: räsonnirt, so viel ihr      
  04 wollt, und worüber ihr wollt; aber gehorcht!) Hier ist überall Einschränkung      
  05 der Freiheit. Welche Einschränkung aber ist der Aufklärung      
  06 hinderlich? Welche nicht, sondern ihr wohl gar beförderlich? - Ich antworte:      
  07 der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein,      
  08 und der allein kann Aufklärung unter Menschen zu Stande bringen; der      
  09 Privatgebrauch derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein,      
  10 ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern.      
  11 Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft      
  12 denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publicum      
  13 der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen,      
  14 den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten oder      
  15 Amte von seiner Vernunft machen darf. Nun ist zu manchen Geschäften,      
  16 die in das Interesse des gemeinen Wesens laufen, ein gewisser Mechanism      
  17 nothwendig, vermittels dessen einige Glieder des gemeinen Wesens sich      
  18 bloß passiv verhalten müssen, um durch eine künstliche Einhelligkeit von      
  19 der Regierung zu öffentlichen Zwecken gerichtet, oder wenigstens von der      
  20 Zerstörung dieser Zwecke abgehalten zu werden. Hier ist es nun freilich      
  21 nicht erlaubt, zu räsonniren; sondern man muß gehorchen. So fern      
  22 sich aber dieser Theil der Maschine zugleich als Glied eines ganzen gemeinen      
  23 Wesens, ja sogar der Weltbürgergesellschaft ansieht, mithin in der      
  24 Qualität eines Gelehrten, der sich an ein Publicum im eigentlichen Verstande      
  25 durch Schriften wendet: kann er allerdings räsonniren, ohne da      
  26 dadurch die Geschäfte leiden, zu denen er zum Theile als passives Glied      
  27 angesetzt ist. So würde es sehr verderblich sein, wenn ein Offizier, dem      
  28 von seinen Oberen etwas anbefohlen wird, im Dienste über die Zweckmäßigkeit      
  29 oder Nützlichkeit dieses Befehls laut vernünfteln wollte; er muß      
  30 gehorchen. Es kann ihm aber billigermaßen nicht verwehrt werden, als      
  31 Gelehrter über die Fehler im Kriegesdienste Anmerkungen zu machen und      
  32 diese seinem Publicum zur Beurtheilung vorzulegen. Der Bürger kann      
  33 sich nicht weigern, die ihm auferlegten Abgaben zu leisten; sogar kann ein      
  34 vorwitziger Tadel solcher Auflagen, wenn sie von ihm geleistet werden sollen,      
  35 als ein Skandal (das allgemeine Widersetzlichkeiten veranlassen könnte)      
  36 bestraft werden. Eben derselbe handelt demungeachtet der Pflicht eines      
  37 Bürgers nicht entgegen, wenn er als Gelehrter wider die Unschicklichkeit      
           
     

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