Kant: AA VIII, Idee zu einer allgemeinen ... , Seite 026 |
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01 | das thut auch die barbarische Freiheit der schon gestifteten Staaten, nämlich: | ||||||
02 | daß durch die Verwendung aller Kräfte der gemeinen Wesen auf | ||||||
03 | Rüstungen gegen einander, durch die Verwüstungen, die der Krieg anrichtet, | ||||||
04 | noch mehr aber durch die Nothwendigkeit sich beständig in Bereitschaft | ||||||
05 | dazu zu erhalten zwar die völlige Entwicklung der Naturanlagen in ihrem | ||||||
06 | Fortgange gehemmt wird, dagegen aber auch die Übel, die daraus entspringen, | ||||||
07 | unsere Gattung nöthigen, zu dem an sich heilsamen Widerstande | ||||||
08 | vieler Staaten neben einander, der aus ihrer Freiheit entspringt, ein | ||||||
09 | Gesetz des Gleichgewichts auszufinden und eine vereinigte Gewalt, die | ||||||
10 | demselben Nachdruck giebt, mithin einen weltbürgerlichen Zustand der | ||||||
11 | öffentlichen Staatssicherheit einzuführen, der nicht ohne alle Gefahr sei, | ||||||
12 | damit die Kräfte der Menschheit nicht einschlafen, aber doch auch nicht | ||||||
13 | ohne ein Princip der Gleichheit ihrer wechselseitigen Wirkung und | ||||||
14 | Gegenwirkung, damit sie einander nicht zerstören. Ehe dieser letzte | ||||||
15 | Schritt (nämlich die Staatenverbindung) geschehen, also fast nur auf der | ||||||
16 | Hälfte ihrer Ausbildung, erduldet die menschliche Natur die härtesten | ||||||
17 | Übel unter dem betrüglichen Anschein äußerer Wohlfahrt; und Rousseau | ||||||
18 | hatte so Unrecht nicht, wenn er den Zustand der Wilden vorzog, so bald | ||||||
19 | man nämlich diese letzte Stufe, die unsere Gattung noch zu ersteigen hat, wegläßt. | ||||||
20 | Wir sind im hohen Grade durch Kunst und Wissenschaft cultivirt. | ||||||
21 | Wir sind civilisirt bis zum Überlästigen zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit | ||||||
22 | und Anständigkeit. Aber uns für schon moralisirt zu halten, daran | ||||||
23 | fehlt noch sehr viel. Denn die Idee der Moralität gehört noch zur Cultur; | ||||||
24 | der Gebrauch dieser Idee aber, welcher nur auf das Sittenähnliche in der | ||||||
25 | Ehrliebe und der äußeren Anständigkeit hinausläuft, macht blos die Civilisirung | ||||||
26 | aus. So lange aber Staaten alle ihre Kräfte auf ihre eiteln und | ||||||
27 | gewaltsamen Erweiterungsabsichten verwenden und so die langsame Bemühung | ||||||
28 | der inneren Bildung der Denkungsart ihrer Bürger unaufhörlich | ||||||
29 | hemmen, ihnen selbst auch alle Unterstützung in dieser Absicht entziehen, ist | ||||||
30 | nichts von dieser Art zu erwarten: weil dazu eine lange innere Bearbeitung | ||||||
31 | jedes gemeinen Wesens zur Bildung seiner Bürger erfordert wird. Alles | ||||||
32 | Gute aber, das nicht auf moralisch=gute Gesinnung gepfropft ist, ist nichts | ||||||
33 | als lauter Schein und schimmerndes Elend. In diesem Zustande wird wohl | ||||||
34 | das menschliche Geschlecht verbleiben, bis es sich auf die Art, wie ich gesagt | ||||||
35 | habe, aus dem chaotischen Zustande seiner Staatsverhältnisse herausgearbeitet | ||||||
36 | haben wird. | ||||||
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