Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 268 |
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01 | Geschlechtsneigung, beide mit Affect verbunden. Die der zweiten | ||||||
02 | Gattung sind Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht, welche nicht mit | ||||||
03 | dem Ungestüm eines Affects, sondern mit der Beharrlichkeit einer auf gewisse | ||||||
04 | Zwecke angelegten Maxime verbunden sind. Jene können erhitzte | ||||||
05 | ( passiones ardentes ), diese, wie der Geiz, kalte Leidenschaften ( frigidae ) | ||||||
06 | genannt werden. Alle Leidenschaften aber sind immer nur von Menschen | ||||||
07 | auf Menschen, nicht auf Sachen gerichtete Begierden, und man kann zu | ||||||
08 | einem fruchtbaren Acker, oder dergleichen Kuh zwar zur Benutzung derselben | ||||||
09 | viel Neigung, aber keine Affection (welche in der Neigung zur | ||||||
10 | Gemeinschaft mit Anderen besteht) haben; viel weniger eine Leidenschaft. | ||||||
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12 | A. |
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13 | Von der Freiheitsneigung als Leidenschaft. |
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14 | § 82. Sie ist die heftigste unter allen am Naturmenschen, in einem | ||||||
15 | Zustande, da er es nicht vermeiden kann, mit Anderen in wechselseitige | ||||||
16 | Ansprüche zu kommen. | ||||||
17 | Wer nur nach eines Anderen Wahl glücklich sein kann (dieser mag | ||||||
18 | nun so wohlwollend sein, als man immer will), fühlt sich mit Recht unglücklich. | ||||||
19 | Denn welche Gewährleistung hat er, daß sein mächtiger Nebenmensch | ||||||
20 | in dem Urtheile über das Wohl mit dem seinen zusammenstimmen | ||||||
21 | werde? Der Wilde (noch nicht an Unterwürfigkeit Gewöhnte) kennt kein | ||||||
22 | größeres Unglück als in diese zu gerathen und das mit Recht, so lange | ||||||
23 | noch kein öffentlich Gesetz ihn sichert; bis ihn Disciplin allmählig dazu | ||||||
24 | geduldig gemacht hat. Daher sein Zustand des beständigen Krieges, in | ||||||
25 | der Absicht andere so weit wie möglich von sich entfernt zu halten und in | ||||||
26 | Wüsteneien zerstreut zu leben. Ja das Kind, welches sich nur eben dem | ||||||
27 | mütterlichen Schooße entwunden hat, scheint zum Unterschiede von allen | ||||||
28 | andern Thieren blos deswegen mit lautem Geschrei in die Welt zu treten: | ||||||
29 | weil es sein Unvermögen, sich seiner Gliedmaßen zu bedienen, für Zwang | ||||||
30 | ansieht und so einen Anspruch auf Freiheit (wovon kein anderes Thier | ||||||
31 | eine Vorstellung hat) sofort ankündigt*). - Nomadische Völker, indem | ||||||
*) Lucrez, als Dichter, wendet dieses in der That merkwürdige Phänomen im Thierreiche anders: Vagituque locum lugubri complet, ut aequumst Cui tantum in vita restet transire malorum! [Seitenumbruch] Diesen Prospect kann das neugeborne Kind nun wohl nicht haben; aber daß das Gefühl der Unbehaglichkeit in ihm nicht vom körperlichen Schmerz, sondern von einer dunkelen Idee (oder dieser analogen Vorstellung) von Freiheit und der Hinderniß derselben, dem Unrecht, herrühre, entdeckt sich durch die ein paar Monate nach der Geburt sich mit seinem Geschrei verbindende Thränen: welches eine Art von Erbitterung anzeigt, wenn es sich gewissen Gegenständen zu näheren, oder überhaupt nur seinen Zustand zu verändern bestrebt ist und daran sich gehindert fühlt. - Dieser Trieb, seinen Willen zu haben und die Verhinderung daran als eine Beleidigung aufzunehmen, zeichnet sich durch seinen Ton auch besonders aus und läßt eine Bösartigkeit hervorscheinen, welche die Mutter zu bestrafen sich genöthigt sieht, aber gewöhnlich durch noch heftigeres Schreien erwiedert wird. Eben dasselbe geschieht, wenn es durch seine eigene Schuld fällt. Die Jungen anderer Thiere spielen, die des Menschen zanken frühzeitig unter einander, und es ist, als ob ein gewisser Rechtsbegriff (der sich auf die äußere Freiheit bezieht) sich mit der Thierheit zugleich entwickele und nicht etwa allmählich erlernt werde. | |||||||
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