Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 266 |
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01 | ein Rausch ist, die Leidenschaft eine Krankheit sei, welche alle Arzeneimittel | ||||||
02 | verabscheut und daher weit schlimmer ist, als alle jene vorübergehende | ||||||
03 | Gemüthsbewegungen, die doch wenigstens den Vorsatz rege | ||||||
04 | machen, sich zu bessern; statt dessen die letztere eine Bezauberung ist, die | ||||||
05 | auch die Besserung ausschlägt. | ||||||
06 | Man benennt die Leidenschaft mit dem Worte sucht (Ehrsucht, | ||||||
07 | Rachsucht, Herrschsucht u. d. g.), außer die der Liebe nicht in dem Verliebtsein. | ||||||
08 | Die Ursache ist, weil, wenn die letztere Begierde (durch den | ||||||
09 | Genuß) befriedigt worden, die Begierde, wenigstens in Ansehung eben | ||||||
10 | derselben Person, zugleich aufhört, mithin man wohl ein leidenschaftliches | ||||||
11 | Verliebtsein (so lange der andere Theil in der Weigerung beharrt), aber | ||||||
12 | keine physische Liebe als Leidenschaft aufführen kann: weil sie in Ansehung | ||||||
13 | des Objects nicht ein beharrliches Princip enthält. Leidenschaft setzt | ||||||
14 | immer eine Maxime des Subjects voraus, nach einem von der Neigung | ||||||
15 | ihm vorgeschriebenen Zwecke zu handeln. Sie ist also jederzeit mit der | ||||||
16 | Vernunft desselben verbunden, und bloßen Thieren kann man keine Leidenschaften | ||||||
17 | beilegen, so wenig wie reinen Vernunftwesen. Ehrsucht, Rachsucht | ||||||
18 | u. s. w., weil sie nie vollkommen befriedigt sind, werden eben darum | ||||||
19 | unter die Leidenschaften gezählt als Krankheiten, wider die es nur Palliativmittel | ||||||
20 | giebt. | ||||||
21 | § 81. Leidenschaften sind Krebsschäden für die reine praktische Vernunft | ||||||
22 | und mehrentheils unheilbar: weil der Kranke nicht will geheilt sein | ||||||
23 | und sich der Herrschaft des Grundsatzes entzieht, durch den dieses allein | ||||||
24 | geschehen könnte. Die Vernunft geht auch im Sinnlich=Praktischen vom | ||||||
25 | Allgemeinen zum Besonderen nach dem Grundsatze: nicht Einer Neigung | ||||||
26 | zu Gefallen die übrigen alle in Schatten oder in den Winkel zu stellen, | ||||||
27 | sondern darauf zu sehen, daß jene mit der Summe aller Neigungen zusammen | ||||||
28 | bestehen könne. - Die Ehrbegierde eines Menschen mag immer | ||||||
29 | eine durch die Vernunft gebilligte Richtung seiner Neigung sein; aber | ||||||
30 | der Ehrbegierige will doch auch von andern geliebt sein, er bedarf gefälligen | ||||||
31 | Umgang mit anderen, Erhaltung seines Vermögenzustandes u. d. g. | ||||||
32 | mehr. Ist er nun aber leidenschaftlich=ehrbegierig, so ist er blind für | ||||||
33 | diese Zwecke, dazu ihn doch seine Neigungen gleichfalls einladen, und daß | ||||||
34 | er von andern gehaßt, oder im Umgange geflohen zu werden, oder durch | ||||||
35 | Aufwand zu verarmen Gefahr läuft, - das übersieht er alles. Es ist | ||||||
36 | Thorheit (den Theil seines Zwecks zum Ganzen zu machen), die der | ||||||
37 | Vernunft selbst in ihrem formalen Princip gerade widerspricht. | ||||||
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