Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 231 |
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01 | Empfindung unseres Zustandes auf das Gemüth macht. Was unmittelbar | ||||||
02 | (durch den Sinn) mich antreibt meinen Zustand zu verlassen (aus | ||||||
03 | ihm herauszugehen): ist mir unangenehm - es schmerzt mich; was | ||||||
04 | eben so mich antreibt, ihn zu erhalten (in ihm zu bleiben): ist mir angenehm, | ||||||
05 | es vergnügt mich. Wir sind aber unaufhaltsam im Strome der | ||||||
06 | Zeit und dem damit verbundenen Wechsel der Empfindungen fortgeführt. | ||||||
07 | Ob nun gleich das Verlassen des einen Zeitpunkts und das Eintreten in | ||||||
08 | den anderen ein und derselbe Act (des Wechsels) ist, so ist doch in unserem | ||||||
09 | Gedanken und dem Bewußtsein dieses Wechsels eine Zeitfolge; dem Verhältniß | ||||||
10 | der Ursache und Wirkung gemäß. - Es frägt sich nun: ob das | ||||||
11 | Bewußtsein des Verlassens des gegenwärtigen Zustandes, oder ob der | ||||||
12 | Prospect des Eintretens in einen künftigen in uns die Empfindung des | ||||||
13 | Vergnügens erwecke. Im ersten Fall ist das Vergnügen nichts anders als | ||||||
14 | Aufhebung eines Schmerzes und etwas Negatives; im zweiten würde es | ||||||
15 | Vorempfindung einer Annehmlichkeit, also Vermehrung des Zustandes der | ||||||
16 | Lust, mithin etwas Positives sein. Es läßt sich aber auch schon zum Voraus | ||||||
17 | errathen, daß das erstere allein statt finden werde; denn die Zeit | ||||||
18 | schleppt uns vom gegenwärtigen zum künftigen (nicht umgekehrt), und daß | ||||||
19 | wir zuerst genöthigt werden aus dem gegenwärtigen herauszugehen, unbestimmt | ||||||
20 | in welchen anderen wir treten werden, nur so daß er doch ein | ||||||
21 | anderer ist, das kann allein die Ursache des angenehmen Gefühls sein. | ||||||
22 | Vergnügen ist das Gefühl der Beförderung; Schmerz das einer Hinderni | ||||||
23 | des Lebens. Leben aber (des Thiers) ist, wie auch schon die Ärzte | ||||||
24 | angemerkt haben, ein continuirliches Spiel des Antagonismus von beiden. | ||||||
25 | Also muß vor jedem Vergnügen der Schmerz vorhergehen; | ||||||
26 | der Schmerz ist immer das erste. Denn was würde aus einer continuirlichen | ||||||
27 | Beförderung der Lebenskraft, die über einen gewissen Grad sich doch | ||||||
28 | nicht steigern läßt, anders folgen als ein schneller Tod vor Freude? | ||||||
29 | Auch kann kein Vergnügen unmittelbar auf das andere | ||||||
30 | folgen; sondern zwischen einem und dem anderen muß sich der Schmerz | ||||||
31 | einfinden. Es sind kleine Hemmungen der Lebenskraft mit dazwischen | ||||||
32 | gemengten Beförderungen derselben, welche den Zustand der Gesundheit | ||||||
33 | ausmachen, den wir irrigerweise für ein continuirlich gefühltes Wohlbefinden | ||||||
34 | halten; da er doch nur aus ruckweise (mit immer dazwischen eintretendem | ||||||
35 | Schmerz) einander folgenden angenehmen Gefühlen besteht. | ||||||
36 | Der Schmerz ist der Stachel der Thätigkeit, und in dieser fühlen wir | ||||||
37 | allererst unser Leben; ohne diesen würde Leblosigkeit eintreten. | ||||||
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