Kant: AA VII, Der Streit der ... , Seite 030 |
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01 | und diesen Einfluß können sie nur bekommen, so fern jede derselben | ||||||
02 | das Volk glauben machen kann, daß sie das Heil desselben am besten zu | ||||||
03 | befördern verstehe, dabei aber doch in der Art, wie sie dieses auszurichten | ||||||
04 | gedenken, einander gerade entgegengesetzt sind. | ||||||
05 | Das Volk aber setzt sein Heil zu oberst nicht in der Freiheit, sondern | ||||||
06 | in seinen natürlichen Zwecken, also in diesen drei Stücken: nach dem Tode | ||||||
07 | selig, im Leben unter andern Mitmenschen des Seinen durch öffentliche | ||||||
08 | Gesetze gesichert, endlich des physischen Genusses des Lebens an sich selbst | ||||||
09 | (d.i. der Gesundheit und langen Lebens) gewärtig zu sein. | ||||||
10 | Die philosophische Facultät aber, die sich auf alle diese Wünsche nur | ||||||
11 | durch Vorschriften, die sie aus der Vernunft entlehnt, einlassen kann, mithin | ||||||
12 | dem Princip der Freiheit anhänglich ist, hält sich nur an das, was der | ||||||
13 | Mensch selbst hinzuthun kann und soll: rechtschaffen zu leben, keinem | ||||||
14 | Unrecht zu thun, sich mäßig im Genusse und duldend in Krankheiten | ||||||
15 | und dabei vornehmlich auf die Selbsthülfe der Natur rechnend zu verhalten; | ||||||
16 | zu welchem Allem es freilich nicht eben großer Gelehrsamkeit bedarf, wobei | ||||||
17 | man dieser aber auch größtentheils entbehren kann, wenn man nur | ||||||
18 | seine Neigungen bändigen und seiner Vernunft das Regiment anvertrauen | ||||||
19 | wollte, was aber als Selbstbemühung dem Volk gar nicht gelegen ist. | ||||||
20 | Die drei obern Facultäten werden nun vom Volk (das in obigen | ||||||
21 | Lehren für seine Neigung zu genießen und Abneigung sich darum zu bearbeiten | ||||||
22 | schlechten Ernst findet) aufgefordert, ihrerseits Propositionen zu | ||||||
23 | thun, die annehmlicher sind: und da lauten die Ansprüche an die Gelehrten, | ||||||
24 | wie folgt: Was ihr Philosophen da schwatzet, wußte ich längst von | ||||||
25 | selbst; ich will aber von euch als Gelehrten wissen: wie, wenn ich auch | ||||||
26 | ruchlos gelebt hätte, ich dennoch kurz vor dem Thorschlusse mir ein Einlaßbillet | ||||||
27 | ins Himmelreich verschaffen, wie, wenn ich auch Unrecht habe, | ||||||
28 | ich doch meinen Proceß gewinnen, und wie, wenn ich auch meine körperlichen | ||||||
29 | Kräfte nach Herzenslust benutzt und mißbraucht hätte, ich doch | ||||||
30 | gesund bleiben und lange leben könne. Dafür habt ihr ja studirt, daß ihr | ||||||
31 | mehr wissen müßt als unser einer (von euch Idioten genannt), der auf | ||||||
32 | nichts weiter als auf gesunden Verstand Anspruch macht.- Es ist aber | ||||||
33 | hier, als ob das Volk zu dem Gelehrten wie zum Wahrsager und Zauberer | ||||||
34 | ginge, der mit übernatürlichen Dingen Bescheid weiß; denn der Ungelehrte | ||||||
35 | macht sich von einem Gelehrten, dem er etwas zumuthet, gern übergroße | ||||||
36 | Begriffe. Daher ist es natürlicherweise vorauszusehen, daß, wenn sich jemand | ||||||
37 | für einen solchen Wundermann auszugeben nur dreust genug ist, | ||||||
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