Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 461 |
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01 | selbst sehr zu bedürfen, theils und zwar vornehmlich, weil keine Strafe, | ||||||
02 | von wem es auch sei, aus Haß verhängt werden darf. - Daher ist Versöhnlichkeit | ||||||
03 | ( placabilitas ) Menschenpflicht; womit doch die sanfte | ||||||
04 | Duldsamkeit der Beleidigungen ( mitis iniuriarum patientia ) nicht verwechselt | ||||||
05 | werden muß, als Entsagung auf harte ( rigorosa ) Mittel, um der | ||||||
06 | fortgesetzten Beleidigung Anderer vorzubeugen; denn das wäre Wegwerfung | ||||||
07 | seiner Rechte unter die Füße Anderer und Verletzung der Pflicht des | ||||||
08 | Menschen gegen sich selbst. | ||||||
09 | Anmerkung. Alle Laster, welche selbst die menschliche Natur | ||||||
10 | hassenswerth machen würden, wenn man sie (als qualificirt) in der | ||||||
11 | Bedeutung von Grundsätzen nehmen wollte, sind inhuman, objectiv | ||||||
12 | betrachtet, aber doch menschlich, subjectiv erwogen: d. i. wie die | ||||||
13 | Erfahrung uns unsere Gattung kennen lehrt. Ob man also zwar | ||||||
14 | einige derselben in der Heftigkeit des Abscheues teuflisch nennen | ||||||
15 | möchte, so wie ihr Gegenstück Engelstugend genannt werden | ||||||
16 | könnte: so sind beide Begriffe doch nur Ideen von einem Maximum, | ||||||
17 | als Maßstab zum Behuf der Vergleichung des Grades der Moralität | ||||||
18 | gedacht, indem man dem Menschen seinen Platz im Himmel | ||||||
19 | oder der Hölle anweiset, ohne aus ihm ein Mittelwesen, was weder | ||||||
20 | den einen dieser Plätze, noch den anderen einnimmt, zu machen. Ob | ||||||
21 | es Haller mit seinem "zweideutig Mittelding von Engeln und von | ||||||
22 | Vieh" besser getroffen habe, mag hier unausgemacht bleiben. Aber | ||||||
23 | das Halbiren in einer Zusammenstellung heterogener Dinge führt | ||||||
24 | auf gar keinen bestimmten Begriff, und zu diesem kann uns in der | ||||||
25 | Ordnung der Wesen nach ihrem uns unbekannten Classenunterschiede | ||||||
26 | nichts hinleiten. Die erstere Gegeneinanderstellung (von Engelstugend | ||||||
27 | und teuflischem Laster) ist Übertreibung. Die zweite, obzwar | ||||||
28 | Menschen, leider! auch in viehische Laster fallen, berechtigt doch nicht | ||||||
29 | eine zu ihrer Species gehörige Anlage dazu ihnen beizulegen, | ||||||
30 | so wenig als die Verkrüppelung einiger Bäume im Walde ein Grund | ||||||
31 | ist, sie zu einer besondern Art von Gewächsen zu machen. | ||||||
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