Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 460

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 sie so weit geht, das Übel oder Böses selbst bewirken zu helfen, sie als      
  02 qualificirte Schadenfreude den Menschenhaß sichtbar macht und in      
  03 ihrer Gräßlichkeit erscheint. Sein Wohlsein und selbst sein Wohlverhalten      
  04 stärker zu fühlen, wenn Unglück oder Verfall Anderer in Skandale gleichsam      
  05 als die Folie unserem eigenen Wohlstande untergelegt wird, um diesen      
  06 in ein desto helleres Licht zu stellen, ist freilich nach Gesetzen der Einbildungskraft,      
  07 nämlich des Contrastes, in der Natur gegründet. Aber      
  08 über die Existenz solcher das allgemeine Weltbeste zerstörenden Enormitäten      
  09 unmittelbar sich zu freuen, mithin dergleichen Eräugnisse auch wohl      
  10 zu wünschen, ist ein geheimer Menschenhaß und das gerade Widerspiel      
  11 der Nächstenliebe, die uns als Pflicht obliegt. - Der Übermuth Anderer      
  12 bei ununterbrochenem Wohlergehen und der Eigendünkel im Wohlverhalten      
  13 (eigentlich aber nur im Glück, der Verleitung zum öffentlichen      
  14 Laster noch immer entwischt zu sein), welches beides der eigenliebige      
  15 Mensch sich zum Verdienst anrechnet, bringen diese feindselige Freude      
  16 hervor, die der Pflicht nach dem Princip der Theilnehmung (des ehrlichen      
  17 Chremes beim Terenz): "Ich bin ein Mensch; Alles, was Menschen widerfährt,      
  18 das trifft auch mich" gerade entgegengesetzt ist.      
           
  19 Von dieser Schadenfreude ist die süßeste und noch dazu mit dem      
  20 Schein des größten Rechts, ja wohl gar der Verbindlichkeit (als Rechtsbegierde),      
  21 den Schaden Anderer auch ohne eigenen Vortheil sich zum Zweck      
  22 zu machen, die Rachbegierde.      
           
  23 Eine jede das Recht eines Menschen kränkende That verdient Strafe,      
  24 wodurch das Verbrechen an dem Thäter gerächt (nicht blos der zugefügte      
  25 Schade ersetzt) wird. Nun ist aber Strafe nicht ein Act der Privatautorität      
  26 des Beleidigten, sondern eines von ihm unterschiedenen Gerichtshofes,      
  27 der den Gesetzen eines Oberen über Alle, die demselben unterworfen      
  28 sind, Effect giebt, und wenn wir die Menschen (wie es in der Ethik      
  29 nothwendig ist) in einem rechtlichen Zustande, aber nach bloßen Vernunftgesetzen      
  30 (nicht nach bürgerlichen) betrachten, so hat niemand die      
  31 Befugniß Strafen zu verhängen und von Menschen erlittene Beleidigung      
  32 zu rächen, als der, welcher auch der oberste moralische Gesetzgeber ist, und      
  33 dieser allein (nämlich Gott) kann sagen: "Die Rache ist mein; ich will      
  34 vergelten." Es ist also Tugendpflicht nicht allein selbst blos aus Rache      
  35 die Feindseligkeit Anderer nicht mit Haß zu erwidern, sondern selbst      
  36 nicht einmal den Weltrichter zur Rache aufzufordern; theils weil der      
  37 Mensch von eigener Schuld genug auf sich sitzen hat, um der Verzeihung      
           
     

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