Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 441 |
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04 | Dieses ist: Erkenne (erforsche, ergründe) dich selbst nicht nach | ||||||
05 | deiner physischen Vollkommenheit (der Tauglichkeit oder Untauglichkeit | ||||||
06 | zu allerlei dir beliebigen oder auch gebotenen Zwecke), sondern nach der | ||||||
07 | moralischen in Beziehung auf deine Pflicht - dein Herz, - ob es gut | ||||||
08 | oder böse sei, ob die Quelle deiner Handlungen lauter oder unlauter, und | ||||||
09 | was entweder als ursprünglich zur Substanz des Menschen gehörend, | ||||||
10 | oder als abgeleitet (erworben oder zugezogen) ihm selbst zugerechnet werden | ||||||
11 | kann und zum moralischen Zustande gehören mag. | ||||||
12 | Das moralische Selbsterkenntniß, das in die schwerer zu ergründende | ||||||
13 | Tiefen (Abgrund) des Herzens zu dringen verlangt, ist aller menschlichen | ||||||
14 | Weisheit Anfang. Denn die letztere, welche in der Zusammenstimmung | ||||||
15 | des Willens eines Wesens zum Endzweck besteht, bedarf beim Menschen zu | ||||||
16 | allererst die Wegräumung der inneren Hindernisse (eines bösen in ihm | ||||||
17 | genistelten Willens) und dann die Entwickelung der nie verlierbaren ursprünglichen | ||||||
18 | Anlage eines guten Willens in ihm zu entwickeln (nur die | ||||||
19 | Höllenfahrt des Selbsterkenntnisses bahnt den Weg zur Vergötterung). | ||||||
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21 | Dieses moralische Selbsterkenntniß wird erstlich die schwärmerische | ||||||
22 | Verachtung seiner selbst, als Mensch (seiner ganzen Gattung) überhaupt, | ||||||
23 | verbannen; denn sie widerspricht sich selbst. - Es kann ja nur | ||||||
24 | durch die herrliche in uns befindliche Anlage zum Guten, welche den Menschen | ||||||
25 | achtungswürdig macht, geschehen, daß er den Menschen, der dieser | ||||||
26 | zuwider handelt, (sich selbst, aber nicht die Menschheit in sich) verachtungswürdig | ||||||
27 | findet. - Dann aber auch widersteht sie auch der eigenliebigen | ||||||
28 | Selbstschätzung, bloße Wünsche, wenn sie mit noch so großer Sehnsucht | ||||||
29 | geschähen, da sie an sich doch thatleer sind und bleiben, für Beweise eines | ||||||
30 | guten Herzens zu halten (Gebet ist auch nur ein innerlich vor einem | ||||||
31 | Herzenskündiger declarirter Wunsch). Unparteilichkeit in Beurtheilung | ||||||
32 | unserer selbst in Vergleichung mit dem Gesetz und Aufrichtigkeit im Selbstgeständnisse | ||||||
33 | seines inneren moralischen Werths oder Unwerths sind Pflichten | ||||||
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