Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 440 |
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01 | Vernunft ihr angemessen zu handeln gegeben; und der Mensch erhält | ||||||
02 | vermittelst dieser nur nach der Analogie mit einem Gesetzgeber | ||||||
03 | aller vernünftigen Weltwesen eine bloße Leitung, die Gewissenhaftigkeit | ||||||
04 | (welche auch religio genannt wird) als Verantwortlichkeit vor einem von | ||||||
05 | uns selbst unterschiedenen, aber uns doch innigst gegenwärtigen heiligen | ||||||
06 | Wesen (der moralisch=gesetzgebenden Vernunft) sich vorzustellen und dessen | ||||||
07 | Willen den Regeln der Gerechtigkeit zu unterwerfen. Der Begriff von | ||||||
08 | der Religion überhaupt ist hier dem Menschen blos " ein Princip der Beurtheilung | ||||||
09 | aller seiner Pflichten als göttlicher Gebote." | ||||||
10 | 1) In einer Gewissenssache ( causa conscientiam tangens ) denkt sich | ||||||
11 | der Mensch ein warnendes Gewissen ( praemonens ) vor der Entschließung; | ||||||
12 | wobei die äußerste Bedenklichkeit ( scrupulositas ), wenn es einen | ||||||
13 | Pflichtbegriff (etwas an sich Moralisches) betrifft, darüber das | ||||||
14 | Gewissen der alleinige Richter ist ( casibus conscientiae ), nicht für Kleinigkeitskrämerei | ||||||
15 | (Mikrologie) und eine wahre Übertretung nicht für Bagatelle | ||||||
16 | ( peccatillum ) beurtheilt und (nach dem Grundsatz: minima non | ||||||
17 | curat praetor ) einem willkürlich sprechenden Gewissensrath überlassen | ||||||
18 | werden kann. Daher ein weites Gewissen jemanden zuzuschreiben so | ||||||
19 | viel heißt als: ihn gewissenlos nennen. | ||||||
20 | 2) Wenn die That beschlossen ist, tritt im Gewissen zuerst der Ankläger, | ||||||
21 | aber zugleich mit ihm auch ein Anwalt (Advocat) auf; wobei | ||||||
22 | der Streit nicht gütlich ( per amicabilem compositionem ) abgemacht, sondern | ||||||
23 | nach der Strenge des Rechts entschieden werden muß; und hierauf | ||||||
24 | folgt | ||||||
25 | 3) der rechtskräftige Spruch des Gewissens über den Menschen, ihn | ||||||
26 | loszusprechen oder zu verdammen, der den Beschluß macht; wobei zu | ||||||
27 | merken ist, daß der erstere nie eine Belohnung ( praemium ), als Gewinn | ||||||
28 | von etwas, was vorher nicht sein war, beschließen kann, sondern nur | ||||||
29 | ein Frohsein, der Gefahr, strafbar befunden zu werden, entgangen zu | ||||||
30 | sein, enthalte und daher die Seligkeit in dem trostreichen Zuspruch seines | ||||||
31 | Gewissens nicht positiv (als Freude), sondern nur negativ (Beruhigung | ||||||
32 | nach vorhergegangener Bangigkeit) ist, was der Tugend, als einem | ||||||
33 | Kampf gegen die Einflüsse des bösen Princip im Menschen, allein beigelegt | ||||||
34 | werden kann. | ||||||
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