Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 426

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01
Casuistische Fragen.
     
           
  02 Der Zweck der Natur ist in der Beiwohnung der Geschlechter die      
  03 Fortpflanzung, d. i. die Erhaltung der Art; jenem Zwecke darf also      
  04 wenigstens nicht zuwider gehandelt werden. Ist es aber erlaubt, auch      
  05 ohne auf diesen Rücksicht zu nehmen, sich (selbst wenn es in der Ehe      
  06 geschähe) jenes Gebrauchs anzumaßen?      
           
  07 Ist es z. B. zur Zeit der Schwangerschaft - ist es bei der Sterilität      
  08 des Weibes (Alters oder Krankheit wegen), oder wenn dieses keinen Anreiz      
  09 dazu bei sich findet, nicht dem Naturzwecke und hiemit auch der Pflicht      
  10 gegen sich selbst an einem oder dem anderen Theil eben so wie bei der      
  11 unnatürlichen Wohllust zuwider, von seinen Geschlechtseigenschaften Gebrauch      
  12 zu machen; oder giebt es hier ein Erlaubnißgesetz der moralisch      
  13 praktischen Vernunft, welches in der Collision ihrer Bestimmungsgründe      
  14 etwas an sich zwar Unerlaubtes doch zur Verhütung einer noch größeren      
  15 Übertretung (gleichsam nachsichtlich) erlaubt macht? - Von wo an kann      
  16 man die Einschränkung einer weiten Verbindlichkeit zum Purism (einer      
  17 Pedanterei in Ansehung der Pflichtbeobachtung, was die Weite derselben      
  18 betrifft) zählen und den thierischen Neigungen mit Gefahr der Verlassung      
  19 des Vernunftgesetzes einen Spielraum verstatten?      
           
  20 Die Geschlechtsneigung wird auch Liebe (in der engsten Bedeutung      
  21 des Worts) genannt und ist in der That die größte Sinnenlust, die an      
  22 einem Gegenstande möglich ist; - nicht blos sinnliche Lust, wie an      
  23 Gegenständen, die in der bloßen Reflexion über sie gefallen (da die Empfänglichkeit      
  24 für sie Geschmack heißt), sondern die Lust aus dem Genusse      
  25 einer anderen Person, die also zum Begehrungsvermögen und zwar      
  26 der höchsten Stufe desselben, der Leidenschaft, gehört. Sie kann aber      
  27 weder zur Liebe des Wohlgefallens, noch der des Wohlwollens gezählt      
  28 werden (denn beide halten eher vom fleischlichen Genuß ab), sondern ist      
  29 eine Lust von besonderer Art ( sui generis ), und das Brünstigsein hat mit      
  30 der moralischen Liebe eigentlich nichts gemein, wiewohl sie mit der letzteren,      
  31 wenn die praktische Vernunft mit ihren einschränkenden Bedingungen      
  32 hinzu kommt, in enge Verbindung treten kann.      
           
           
     

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