Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 400

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 seines unerforschlichen Ursprungs zu verstärken: welches dadurch geschieht,    
  02 daß gezeigt wird, wie es abgesondert von allem pathologischen Reize und      
  03 in seiner Reinigkeit, durch bloße Vernunftvorstellung, eben am stärksten erregt      
  04 wird.      
           
  05 Dieses Gefühl einen moralischen Sinn zu nennen ist nicht schicklich;      
  06 denn unter dem Wort Sinn wird gemeiniglich ein theoretisches, auf einen      
  07 Gegenstand bezogenes Wahrnehmungsvermögen verstanden: dahingegen      
  08 das moralische Gefühl (wie Lust und Unlust überhaupt) etwas blos Subjectives      
  09 ist, was kein Erkenntniß abgiebt. - Ohne alles moralische Gefühl      
  10 ist kein Mensch; denn bei völliger Unempfänglichkeit für diese Empfindung      
  11 wäre er sittlich todt, und wenn (um in der Sprache der Ärzte zu      
  12 reden) die sittliche Lebenskraft keinen Reiz mehr auf dieses Gefühl bewirken      
  13 könnte, so würde sich die Menschheit (gleichsam nach chemischen Gesetzen)      
  14 in die bloße Thierheit auflösen und mit der Masse anderer Naturwesen      
  15 unwiederbringlich vermischt werden. - Wir haben aber für das      
  16 (Sittlich=) Gute und Böse eben so wenig einen besonderen Sinn, als wir      
  17 einen solchen für die Wahrheit haben, ob man sich gleich oft so ausdrückt,      
  18 sondern Empfänglichkeit der freien Willkür für die Bewegung      
  19 derselben durch praktische reine Vernunft (und ihr Gesetz), und das ist es,      
  20 was wir das moralische Gefühl nennen.      
           
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b.

     
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Vom Gewissen.

     
           
  23 Eben so ist das Gewissen nicht etwas Erwerbliches, und es giebt keine      
  24 Pflicht sich eines anzuschaffen; sondern jeder Mensch, als sittliches Wesen,      
  25 hat ein solches ursprünglich in sich. Zum Gewissen verbunden zu sein,      
  26 würde so viel sagen als: die Pflicht auf sich haben Pflichten anzuerkennen.      
  27 Denn Gewissen ist die dem Menschen in jedem Fall eines Gesetzes seine      
  28 Pflicht zum Lossprechen oder Verurtheilen vorhaltende praktische Vernunft.      
  29 Seine Beziehung also ist nicht die auf ein Object, sondern blos aufs Subject      
  30 (das moralische Gefühl durch ihren Act zu afficiren); also eine unausbleibliche      
  31 Thatsache, nicht eine Obliegenheit und Pflicht. Wenn man      
  32 daher sagt: dieser Mensch hat kein Gewissen, so meint man damit: er      
  33 kehrt sich nicht an den Ausspruch desselben. Denn hätte er wirklich keines,      
  34 so würde er sich auch nichts als pflichtmäßig zurechnen, oder als pflichtwidrig      
           
     

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