Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 392

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 zu ersehen. Das Vermögen sich überhaupt irgend einen Zweck zu      
  02 setzen ist das charakteristische der Menschheit (zum Unterschiede von der      
  03 Thierheit). Mit dem Zwecke der Menschheit in unserer eigenen Person ist      
  04 also auch der Vernunftwille, mithin die Pflicht verbunden, sich um die      
  05 Menschheit durch Cultur überhaupt verdient zu machen, sich das Vermögen      
  06 zu Ausführung allerlei möglichen Zwecke, so fern dieses in dem      
  07 Menschen selbst anzutreffen ist, zu verschaffen oder es zu fördern, d. i. eine      
  08 Pflicht zur Cultur der rohen Anlagen seiner Natur, als wodurch das Thier      
  09 sich allererst zum Menschen erhebt: mithin Pflicht an sich selbst.      
           
  10 Allein diese Pflicht ist blos ethisch, d. i. von weiter Verbindlichkeit.      
  11 Wie weit man in Bearbeitung (Erweiterung oder Berichtigung seines      
  12 Verstandesvermögens, d. i. in Kenntnissen oder in Kunstfähigkeit) gehen      
  13 solle, schreibt kein Vernunftprincip bestimmt vor; auch macht die Verschiedenheit      
  14 der Lagen, worin Menschen kommen können, die Wahl der Art      
  15 der Beschäftigung, dazu er sein Talent anbauen soll, sehr willkürlich.      
  16 Es ist also hier kein Gesetz der Vernunft für die Handlungen, sondern blos      
  17 für die Maxime der Handlungen, welche so lautet: "Baue deine Gemüths      
  18 und Leibeskräfte zur Tauglichkeit für alle Zwecke an, die dir aufstoßen      
  19 können", ungewiß welche davon einmal die deinigen werden könnten.      
           
  20 b) Cultur der Moralität in uns. Die größte moralische Vollkommenheit      
  21 des Menschen ist: seine Pflicht zu thun und zwar aus Pflicht      
  22 (daß das Gesetz nicht blos die Regel, sondern auch die Triebfeder der      
  23 Handlungen sei). - Nun scheint dieses zwar beim ersten Anblick eine      
  24 enge Verbindlichkeit zu sein und das Pflichtprincip zu jeder Handlung      
  25 nicht blos die Legalität, sondern auch die Moralität, d. i. Gesinnung,      
  26 mit der Pünktlichkeit und Strenge eines Gesetzes zu gebieten; aber in der      
  27 That gebietet das Gesetz auch hier nur die Maxime der Handlung,      
  28 nämlich den Grund der Verpflichtung nicht in den sinnlichen Antrieben      
  29 (Vortheil oder Nachtheil), sondern ganz und gar im Gesetz zu suchen      
  30 mithin nicht die Handlung selbst. - - Denn es ist dem Menschen      
  31 nicht möglich so in die Tiefe seines eigenen Herzens einzuschauen, daß er      
  32 jemals von der Reinigkeit seiner moralischen Absicht und der Lauterkeit      
  33 seiner Gesinnung auch nur in einer Handlung völlig gewiß sein könnte;      
  34 wenn er gleich über die Legalität derselben gar nicht zweifelhaft ist. Vielmals      
  35 wird Schwäche, welche das Wagstück eines Verbrechens abräth, von      
  36 demselben Menschen für Tugend (die den Begriff von Stärke giebt) gehalten,      
  37 und wie viele mögen ein langes schuldloses Leben geführt haben,      
           
     

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