Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 390 |
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04 | Dieser Satz ist eine Folge aus dem vorigen; denn wenn das Gesetz | ||||||
05 | nur die Maxime der Handlungen, nicht die Handlungen selbst gebieten | ||||||
06 | kann, so ists ein Zeichen, daß es der Befolgung (Observanz) einen Spielraum | ||||||
07 | ( latitudo ) für die freie Willkür überlasse, d. i. nicht bestimmt angeben | ||||||
08 | könne, wie und wie viel durch die Handlung zu dem Zweck, der zugleich | ||||||
09 | Pflicht ist, gewirkt werden solle. - Es wird aber unter einer weiten | ||||||
10 | Pflicht nicht eine Erlaubniß zu Ausnahmen von der Maxime der Handlungen, | ||||||
11 | sondern nur die der Einschränkung einer Pflichtmaxime durch die | ||||||
12 | andere (z. B. die allgemeine Nächstenliebe durch die Elternliebe) verstanden, | ||||||
13 | wodurch in der That das Feld für die Tugendpraxis erweitert | ||||||
14 | wird. - Je weiter die Pflicht, je unvollkommener also die Verbindlichkeit | ||||||
15 | des Menschen zur Handlung ist, je näher er gleichwohl die Maxime | ||||||
16 | der Observanz derselben (in seiner Gesinnung) der engen Pflicht (des | ||||||
17 | Rechts) bringt, desto vollkommener ist seine Tugendhandlung. | ||||||
18 | Die unvollkommenen Pflichten sind also allein Tugendpflichten. | ||||||
19 | Die Erfüllung derselben ist Verdienst ( meritum ) = + a: ihre Übertretung | ||||||
20 | aber ist nicht sofort Verschuldung ( demeritum ) = - a, sondern | ||||||
21 | blos moralischer Unwerth = 0, außer wenn es dem Subject | ||||||
22 | Grundsatz wäre, sich jenen Pflichten nicht zu fügen. Die Stärke des Vorsatzes | ||||||
23 | im ersteren heißt eigentlich allein Tugend ( virtus ), die Schwäche | ||||||
24 | in der zweiten nicht sowohl Laster ( vitium ) als vielmehr blos Untugend, | ||||||
25 | Mangel an moralischer Stärke ( defectus moralis ). (Wie das Wort Tugend | ||||||
26 | von taugen, so stammt Untugend von zu nichts taugen.) eine jede | ||||||
27 | pflichtwidrige Handlung heißt Übertretung ( peccatum ). Die vorsetzliche | ||||||
28 | aber, die zum Grundsatz geworden ist, macht eigentlich das aus, was man | ||||||
29 | Laster ( vitium ) nennt. | ||||||
30 | Obzwar die Angemessenheit der Handlungen zum Rechte (ein rechtlicher | ||||||
31 | Mensch zu sein) nichts Verdienstliches ist, so ist doch die der Maxime | ||||||
32 | solcher Handlungen, als Pflichten, d. i. die Achtung fürs Recht, verdienstlich. | ||||||
33 | Denn der Mensch macht sich dadurch das Recht der Menschheit, | ||||||
34 | oder auch der Menschen zum Zweck und erweitert dadurch seinen | ||||||
35 | Pflichtbegriff über den der Schuldigkeit ( officium debiti ): weil ein | ||||||
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