Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 390

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01

VII

     
  02

Die ethischen Pflichten sind von weiter, dagegen die Rechtspflichten

     
  03

von enger Verbindlichkeit.

     
           
  04 Dieser Satz ist eine Folge aus dem vorigen; denn wenn das Gesetz      
  05 nur die Maxime der Handlungen, nicht die Handlungen selbst gebieten      
  06 kann, so ists ein Zeichen, daß es der Befolgung (Observanz) einen Spielraum      
  07 ( latitudo ) für die freie Willkür überlasse, d. i. nicht bestimmt angeben      
  08 könne, wie und wie viel durch die Handlung zu dem Zweck, der zugleich      
  09 Pflicht ist, gewirkt werden solle. - Es wird aber unter einer weiten      
  10 Pflicht nicht eine Erlaubniß zu Ausnahmen von der Maxime der Handlungen,      
  11 sondern nur die der Einschränkung einer Pflichtmaxime durch die      
  12 andere (z. B. die allgemeine Nächstenliebe durch die Elternliebe) verstanden,      
  13 wodurch in der That das Feld für die Tugendpraxis erweitert      
  14 wird. - Je weiter die Pflicht, je unvollkommener also die Verbindlichkeit      
  15 des Menschen zur Handlung ist, je näher er gleichwohl die Maxime      
  16 der Observanz derselben (in seiner Gesinnung) der engen Pflicht (des      
  17 Rechts) bringt, desto vollkommener ist seine Tugendhandlung.      
           
  18 Die unvollkommenen Pflichten sind also allein Tugendpflichten.      
  19 Die Erfüllung derselben ist Verdienst ( meritum ) = + a: ihre Übertretung      
  20 aber ist nicht sofort Verschuldung ( demeritum ) = - a, sondern      
  21 blos moralischer Unwerth = 0, außer wenn es dem Subject      
  22 Grundsatz wäre, sich jenen Pflichten nicht zu fügen. Die Stärke des Vorsatzes      
  23 im ersteren heißt eigentlich allein Tugend ( virtus ), die Schwäche      
  24 in der zweiten nicht sowohl Laster ( vitium ) als vielmehr blos Untugend,      
  25 Mangel an moralischer Stärke ( defectus moralis ). (Wie das Wort Tugend      
  26 von taugen, so stammt Untugend von zu nichts taugen.) eine jede      
  27 pflichtwidrige Handlung heißt Übertretung ( peccatum ). Die vorsetzliche      
  28 aber, die zum Grundsatz geworden ist, macht eigentlich das aus, was man      
  29 Laster ( vitium ) nennt.      
           
  30 Obzwar die Angemessenheit der Handlungen zum Rechte (ein rechtlicher      
  31 Mensch zu sein) nichts Verdienstliches ist, so ist doch die der Maxime      
  32 solcher Handlungen, als Pflichten, d. i. die Achtung fürs Recht, verdienstlich.      
  33 Denn der Mensch macht sich dadurch das Recht der Menschheit,      
  34 oder auch der Menschen zum Zweck und erweitert dadurch seinen      
  35 Pflichtbegriff über den der Schuldigkeit ( officium debiti ): weil ein      
           
     

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