Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 383 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | Dahin gestellt: was denn das für ein Zweck sei, der an sich selbst | ||||||
02 | Pflicht ist, und wie ein solcher möglich sei, ist hier nur noch zu zeigen | ||||||
03 | nöthig, daß und warum eine Pflicht dieser Art den Namen einer Tugendpflicht | ||||||
04 | führe. | ||||||
05 | Aller Pflicht correspondirt ein Recht, als Befugniß ( facultas moralis | ||||||
06 | generatim ) betrachtet, aber nicht aller Pflicht correspondiren Rechte | ||||||
07 | eines Anderen ( facultas iuridica ) jemand zu zwingen; sondern diese heißen | ||||||
08 | besonders Rechtspflichten. - Eben so correspondirt aller ethischen Verbindlichkeit | ||||||
09 | der Tugendbegriff, aber nicht alle ethische Pflichten sind | ||||||
10 | darum Tugendpflichten. Diejenige nämlich sind es nicht, welche nicht sowohl | ||||||
11 | einen gewissen Zweck (Materie, Object der Willkür), als blos das | ||||||
12 | förmliche der sittlichen Willensbestimmung (z. B. daß die pflichtmäßige | ||||||
13 | Handlung auch aus Pflicht geschehen müsse) betreffen. Nur ein Zweck, | ||||||
14 | der zugleich Pflicht ist, kann Tugendpflicht genannt werden. Daher | ||||||
15 | giebt es mehrere der letztern (auch verschiedene Tugenden); dagegen von | ||||||
16 | der ersteren nur eine, aber für alle Handlungen gültige (tugendhafte Gesinnung) | ||||||
17 | gedacht wird. | ||||||
18 | Die Tugendpflicht ist von der Rechtspflicht wesentlich darin unterschieden: | ||||||
19 | daß zu dieser ein äußerer Zwang moralisch=möglich ist, jene aber | ||||||
20 | auf dem freien Selbstzwange allein beruht. - Für endliche heilige | ||||||
21 | Wesen (die zur Verletzung der Pflicht gar nicht einmal versucht werden | ||||||
22 | können) giebt es keine Tugendlehre, sondern bloß Sittenlehre, welche letztere | ||||||
23 | eine Autonomie der praktischen Vernunft ist, indessen daß die erstere | ||||||
24 | zugleich eine Autokratie derselben, d. i. ein, wenn gleich nicht unmittelbar | ||||||
25 | wahrgenommenes, doch aus dem sittlichen kategorischen Imperativ | ||||||
26 | richtig geschlossenes Bewußtsein des Vermögens enthält, über seine dem | ||||||
27 | Gesetz widerspenstige Neigungen Meister zu werden: so daß die menschliche | ||||||
28 | Moralität in ihrer höchsten Stufe doch nichts mehr als Tugend sein | ||||||
29 | kann; selbst wenn sie ganz rein (vom Einflusse aller fremdartigen Triebfeder | ||||||
30 | als der der Pflicht völlig frei) wäre, da sie dann gemeiniglich als ein | ||||||
31 | Ideal (dem man stets sich annähern müsse) unter dem Namen des Weisen | ||||||
32 | dichterisch personificirt wird. | ||||||
33 | Tugend ist aber auch nicht blos als Fertigkeit und (wie die Preisschrift | ||||||
34 | des Hofpred. Cochius sich ausdrückt) für eine lange, durch Übung | ||||||
35 | erworbene Gewohnheit moralisch=guter Handlungen zu erklären und zu | ||||||
36 | würdigen. Denn wenn diese nicht eine Wirkung überlegter, fester und | ||||||
37 | immer mehr geläuterter Grundsätze ist, so ist sie wie ein jeder andere | ||||||
[ Seite 382 ] [ Seite 384 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |