Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 331 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 |
|
||||||
02 |
|
||||||
03 |
|
||||||
04 | Das Strafrecht ist das Recht des Befehlshabers gegen den Unterwürfigen, | ||||||
05 | ihn wegen seines Verbrechens mit einem Schmerz zu belegen. | ||||||
06 | Der Oberste im Staate kann also nicht bestraft werden, sondern man kann | ||||||
07 | sich nur seiner Herrschaft entziehen. - Diejenige Übertretung des öffentlichen | ||||||
08 | Gesetzes, die den, welcher sie begeht, unfähig macht, Staatsbürger | ||||||
09 | zu sein, heißt Verbrechen schlechthin ( crimen ), aber auch ein öffentliches | ||||||
10 | Verbrechen ( crimen publicum ); daher das erstere (das Privatverbrechen) | ||||||
11 | vor die Civil=, das andere vor die Criminalgerechtigkeit gezogen wird. | ||||||
12 | Veruntreuung, d. i. Unterschlagung der zum Verkehr anvertrauten | ||||||
13 | Gelder oder Waaren, Betrug im Kauf und Verkauf bei sehenden Augen | ||||||
14 | des Anderen sind Privatverbrechen. Dagegen sind: falsch Geld oder falsche | ||||||
15 | Wechsel zu machen, Diebstahl und Raub u. dergl. öffentliche Verbrechen, | ||||||
16 | weil das gemeine Wesen und nicht bloß eine einzelne Person dadurch gefährdet | ||||||
17 | wird. - Sie könnten in die der niederträchtigen Gemüthsart | ||||||
18 | ( indolis abiectae ) und die der gewaltthätigen ( indolis violentae ) eingetheilt | ||||||
19 | werden. | ||||||
20 | Richterliche Strafe ( poena forensis ), die von der natürlichen | ||||||
21 | ( poena naturalis ), dadurch das Laster sich selbst bestraft und auf welche | ||||||
22 | der Gesetzgeber gar nicht Rücksicht nimmt, verschieden, kann niemals bloß | ||||||
23 | als Mittel ein anderes Gute zu befördern für den Verbrecher selbst, oder | ||||||
24 | für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muß jederzeit nur darum wider | ||||||
25 | ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat; denn der Mensch kann nie | ||||||
26 | bloß als Mittel zu den Absichten eines Anderen gehandhabt und unter die | ||||||
27 | Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden, wowider ihn seine angeborne | ||||||
28 | Persönlichkeit schützt, ob er gleich die bürgerliche einzubüßen gar | ||||||
29 | wohl verurtheilt werden kann. Er muß vorher strafbar befunden sein, | ||||||
30 | ehe noch daran gedacht wird, aus dieser Strafe einigen Nutzen für ihn | ||||||
31 | selbst oder seine Mitbürger zu ziehen. Das Strafgesetz ist ein kategorischer | ||||||
32 | Imperativ, und wehe dem! welcher die Schlangenwindungen der Glückseligkeitslehre | ||||||
33 | durchkriecht, um etwas aufzufinden, was durch den Vortheil, | ||||||
34 | den es verspricht, ihn von der Strafe, oder auch nur einem Grade derselben | ||||||
35 | entbinde nach dem pharisäischen Wahlspruch: "Es ist besser, daß | ||||||
[ Seite 330 ] [ Seite 332 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |