Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 304

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 nicht auf die Moralität dieser beiden Stücke, sondern bloß auf einen      
  02 blinden Aberglauben derselben rechnete, ist daraus zu ersehen, daß man      
  03 sich von ihrer bloßen feierlichen Aussage vor Gericht in Rechtssachen      
  04 keine Sicherheit versprach, obgleich die Pflicht der Wahrhaftigkeit in einem      
  05 Fall, wo es auf das Heiligste, was unter Menschen nur sein kann, (aufs      
  06 Recht der Menschen) ankommt, jedermann so klar einleuchtet, mithin bloße      
  07 Märchen den Bewegungsgrund ausmachen: wie z. B. das unter den Rejangs,      
  08 einem heidnischen Volk auf Sumatra, welche nach Marsdens      
  09 Zeugniß bei den Knochen ihrer verstorbenen Anverwandten schwören, ob sie      
  10 gleich gar nicht glauben, daß es noch ein Leben nach dem Tode gebe, oder der      
  11 Eid der Guineaschwarzen bei ihrem Fetisch, etwa einer Vogelfeder,      
  12 auf die sie sich vermessen, daß sie ihnen den Hals brechen solle u. dergl..      
  13 Sie glauben, daß eine unsichtbare Macht, sie mag nun Verstand haben      
  14 oder nicht, schon ihrer Natur nach diese Zauberkraft habe, die durch einen      
  15 solchen Aufruf in That versetzt wird. - Ein solcher Glaube, dessen Name      
  16 Religion ist, eigentlich aber Superstition heißen sollte, ist aber für die      
  17 Rechtsverwaltung unentbehrlich, weil, ohne auf ihn zu rechnen, der Gerichtshof      
  18 nicht genugsam im Stande wäre, geheim gehaltene Facta auszumitteln      
  19 und recht zu sprechen. Ein Gesetz, das hiezu verbindet, ist also      
  20 offenbar nur zum Behuf der richtenden Gewalt gegeben.      
           
  21 Aber nun ist die Frage: worauf gründet man die Verbindlichkeit,      
  22 die jemand vor Gericht haben soll, eines Anderen Eid als zu Recht gültigen      
  23 Beweisgrund der Wahrheit seines Vorgebens anzunehmen, der allem      
  24 Hader ein Ende mache, d. i. was verbindet mich rechtlich, zu glauben, daß      
  25 ein Anderer (der Schwörende) überhaupt Religion habe, um mein Recht      
  26 auf seinen Eid ankommen zu lassen? Imgleichen umgekehrt: kann ich      
  27 überhaupt verbunden werden, zu schwören? Beides ist an sich unrecht.      
  28 Aber in Beziehung auf einen Gerichtshof, also im bürgerlichen Zustande,      
  29 wenn man annimmt, daß es kein anderes Mittel giebt, in gewissen      
  30 Fällen hinter die Wahrheit zu kommen, als den Eid, muß von der      
  31 Religion vorausgesetzt werden, daß sie jeder habe, um sie als ein Nothmittel      
  32 ( in casu necessitatis ) zum Behuf des rechtlichen Verfahrens vor      
  33 einem Gerichtshofe zu gebrauchen, welcher diesen Geisteszwang ( tortura      
  34 spiritualis ) für ein behenderes und dem abergläubischen Hange der      
  35 Menschen angemesseneres Mittel der Aufdeckung des Verborgenen und sich      
  36 darum für berechtigt hält, es zu gebrauchen. - Die gesetzgebende Gewalt      
  37 handelt aber im Grunde unrecht, diese Befugniß der richterlichen      
           
     

[ Seite 303 ] [ Seite 305 ] [ Inhaltsverzeichnis ]