Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 257

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Erwartung und Vorbereitung eines solchen Zustandes, der allein auf      
  02 einem Gesetz des gemeinsamen Willens gegründet werden kann, der also      
  03 zu der Möglichkeit des Letzteren zusammenstimmt, ist ein provisorisch      
  04 rechtlicher Besitz, wogegen derjenige, der in einem solchen wirklichen      
  05 Zustande angetroffen wird, ein peremtorischer Besitz sein würde.      
  06 Vor dem Eintritt in diesen Zustand, zu dem das Subject bereit ist,      
  07 widersteht er denen mit Recht, die dazu sich nicht bequemen und ihn in      
  08 seinem einstweiligen Besitz stören wollen: weil der Wille aller Anderen      
  09 außer ihm selbst, der ihm eine Verbindlichkeit aufzulegen denkt, von einem      
  10 gewissen Besitz abzustehen, bloß einseitig ist, mithin eben so wenig      
  11 gesetzliche Kraft (als die nur im allgemeinen Willen angetroffen wird)      
  12 zum widersprechen hat, als jener zum behaupten, indessen daß der letztere      
  13 doch dies voraus hat, zur Einführung und Errichtung eines bürgerlichen      
  14 Zustandes zusammenzustimmen. - Mit einem Worte: die Art, etwas      
  15 Äußeres als das Seine im Naturzustande zu haben, ist ein physischer      
  16 Besitz, der die rechtliche Präsumtion für sich hat, ihn durch Vereinigung      
  17 mit dem Willen Aller in einer öffentlichen Gesetzgebung zu      
  18 einem rechtlichen zu machen, und gilt in der Erwartung comparativ für      
  19 einen rechtlichen.      
           
  20 Dieses Prärogativ des Rechts aus dem empirischen Besitzstande      
  21 nach der Formel: wohl dem, der im Besitz ist ( beati possidentes )      
  22 besteht nicht darin: daß, weil er die Präsumtion eines rechtlichen      
  23 Mannes hat, er nicht nöthig habe, den Beweis zu führen, er besitze      
  24 etwas rechtmäßig (denn das gilt nur im streitigen Rechte), sondern      
  25 weil nach dem Postulat der praktischen Vernunft jedermann das      
  26 Vermögen zukommt, einen äußeren Gegenstand seiner Willkür als      
  27 das Seine zu haben, mithin jede Inhabung ein Zustand ist, dessen      
  28 Rechtmäßigkeit sich auf jenem Postulat durch einen Act des vorhergehenden      
  29 Willens gründet, und der, wenn nicht ein älterer Besitz      
  30 eines Anderen von ebendemselben Gegenstande dawider ist, also vorläufig,      
  31 nach dem Gesetz der äußeren Freiheit jedermann, der mit mir      
  32 nicht in den Zustand einer öffentlich gesetzlichen Freiheit treten will,      
  33 von aller Anmaßung des Gebrauchs eines solchen Gegenstandes abzuhalten      
  34 berechtigt, um dem Postulat der Vernunft gemäß eine      
  35 Sache, die sonst praktisch vernichtet sein würde, seinem Gebrauch zu      
  36 unterwerfen.      
           
           
     

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