Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 188

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Obzwar, wie oben angemerkt worden, Menschen, die nur den mindesten      
  02 Anfang in der Freiheit zu denken gemacht haben*), da sie vorher      
  03 unter einem Sklavenjoche des Glaubens waren (z. B. die Protestanten),      
  04 sich sofort gleichsam für veredelt halten, je weniger sie (Positives und zur      
  05 Priestervorschrift Gehöriges) zu glauben nöthig haben, so ist es doch bei      
  06 denen, die noch keinen Versuch dieser Art haben machen können oder wollen,      
  07 gerade umgekehrt; denn dieser ihr Grundsatz ist: es ist rathsam, lieber      
  08 zu viel als zu wenig zu glauben. Denn was man mehr thut, als man      
  09 schuldig ist, schade wenigstens nicht, könne aber doch vielleicht wohl gar      
  10 helfen. - Auf diesen Wahn, der die Unredlichkeit in Religionsbekenntnissen      
  11 zum Grundsatze macht (wozu man sich desto leichter entschließt, weil      
  12 die Religion jeden Fehler, folglich auch den der Unredlichkeit wieder gut      
  13 macht), gründet sich die sogenannte Sicherheitsmaxime in Glaubenssachen      
  14 ( argumentum a tuto ): Ist das wahr, was ich von Gott bekenne, so habe      
  15 ichs getroffen; ist es nicht wahr, übrigens auch nichts an sich Unerlaubtes:      
  16 so habe ich es blos überflüssig geglaubt, was zwar nicht nöthig war, mir      
  17 aber nur etwa eine Beschwerde, die doch kein Verbrechen ist, aufgeladen.      
  18 Die Gefahr aus der Unredlichkeit seines Vorgebens, die Verletzung des      
  19 Gewissens, etwas selbst vor Gott für gewiß auszugeben, wovon er sich      
           
    *) Ich gestehe, daß ich mich in den Ausdruck, dessen sich auch wohl kluge Männer bedienen, nicht wohl finden kann: Ein gewisses Volk (was in der Bearbeitung einer gesetzlichen Freiheit begriffen ist) ist zur Freiheit nicht reif; die Leibeigenen eines Gutseigenthümers sind zur Freiheit noch nicht reif; und so auch: die Menschen überhaupt sind zur Glaubensfreiheit noch nicht reif. Nach einer solchen Voraussetzung aber wird die Freiheit nie eintreten; denn man kann zu dieser nicht reifen, wenn man nicht zuvor in Freiheit gesetzt worden ist (man muß frei sein, um sich seiner Kräfte in der Freiheit zweckmäßig bedienen zu können). Die ersten Versuche werden freilich roh, gemeiniglich auch mit einem beschwerlicheren und gefährlicheren Zustande verbunden sein, als da man noch unter den Befehlen, aber auch der Vorsorge anderer stand; allein man reift für die Vernunft nie anders, als durch eigene Versuche (welche machen zu dürfen, man frei sein muß). Ich habe nichts dawider, daß die, welche die Gewalt in Händen haben, durch Zeitumstände genöthigt, die Entschlagung von diesen drei Fesseln noch weit, sehr weit aufschieben. Aber es zum Grundsatze machen, daß denen, die ihnen einmal unterworfen sind, überhaupt die Freiheit nicht tauge, und man berechtigt sei, sie jederzeit davon zu entfernen, ist ein Eingriff in die Regalien der Gottheit selbst, die den Menschen zur Freiheit schuf. Bequemer ist es freilich im Staat, Hause und Kirche zu herrschen, wenn man einen solchen Grundsatz durchzusetzen vermag. Aber auch gerechter?      
           
     

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