Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 187 |
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01 | nicht etwa (um das Äußerste einzuräumen) ein göttlicher, außerordentlich | ||||||
02 | ihm bekannt gewordener Wille es anders verordnet hat. Daß aber Gott | ||||||
03 | diesen fürchterlichen Willen jemals geäußert habe, beruht auf Geschichtsdocumenten | ||||||
04 | und ist nie apodiktisch gewiß. Die Offenbarung ist ihm doch | ||||||
05 | nur durch Menschen zugekommen und von diesen ausgelegt, und schiene | ||||||
06 | sie ihm auch von Gott selbst gekommen zu sein (wie der an Abraham ergangene | ||||||
07 | Befehl, seinen eigenen Sohn wie ein Schaf zu schlachten), so ist | ||||||
08 | es wenigstens doch möglich, daß hier ein Irrthum vorwalte. Alsdann | ||||||
09 | aber würde er es auf die Gefahr wagen, etwas zu thun, was höchst unrecht | ||||||
10 | sein würde, und hierin eben handelt er gewissenlos. - So ist es nun | ||||||
11 | mit allem Geschichts= und Erscheinungsglauben bewandt: daß nämlich | ||||||
12 | die Möglichkeit immer übrig bleibt, es sei darin ein Irrthum anzutreffen, | ||||||
13 | folglich ist es gewissenlos, ihm bei der Möglichkeit, daß vielleicht | ||||||
14 | dasjenige, was er fordert oder erlaubt, unrecht sei, d. i. auf die Gefahr | ||||||
15 | der Verletzung einer an sich gewissen Menschenpflicht, Folge zu leisten. | ||||||
16 | Noch mehr: eine Handlung, die ein solches positives (dafür gehaltenes) | ||||||
17 | Offenbarungsgesetz gebietet, sei auch an sich erlaubt, so fragt sich, | ||||||
18 | ob geistliche Obere oder Lehrer es nach ihrer vermeinten Überzeugung dem | ||||||
19 | Volke als Glaubensartikel (bei Verlust ihres Standes) zu bekennen | ||||||
20 | auferlegen dürfen. Da die Überzeugung keine andere als historische Beweisgründe | ||||||
21 | für sich hat, in dem Urtheile dieses Volks aber (wenn es sich | ||||||
22 | selbst nur im mindesten prüft) immer die absolute Möglichkeit eines vielleicht | ||||||
23 | damit, oder bei ihrer classischen Auslegung vorgegangenen Irrthums | ||||||
24 | übrig bleibt, so würde der Geistliche das Volk nöthigen, etwas | ||||||
25 | wenigstens innerlich für so wahr, als es einen Gott glaubt, d. i. gleichsam | ||||||
26 | im Angesichte Gottes, zu bekennen, was es als ein solches doch nicht gewiß | ||||||
27 | weiß, z. B. die Einsetzung eines gewissen Tages zur periodischen | ||||||
28 | öffentlichen Beförderung der Gottseligkeit, als ein von Gott unmittelbar | ||||||
29 | verordnetes Religionsstück, anzuerkennen, oder ein Geheimniß als von ihm | ||||||
30 | festiglich geglaubt zu bekennen, was es nicht einmal versteht. Sein geistlicher | ||||||
31 | Oberer würde hiebei selbst wider Gewissen verfahren, etwas, wovon | ||||||
32 | er selbst nie völlig überzeugt sein kann, andern zum Glauben aufzudringen, | ||||||
33 | und sollte daher billig wohl bedenken, was er thut, weil er allen Mißbrauch | ||||||
34 | aus einem solchen Frohnglauben verantworten muß. - Es kann | ||||||
35 | also vielleicht Wahrheit im Geglaubten, aber doch zugleich Unwahrhaftigkeit | ||||||
36 | im Glauben (oder dessen selbst bloß innerem Bekenntnisse) sein, und | ||||||
37 | diese ist an sich verdammlich. | ||||||
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