Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 173

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Gottesverehrung für auserlesener zu halten als die, welche sich eine vorgeblich      
  02 gröbere Herabsetzung zur Sinnlichkeit zu Schulden kommen      
  03 lassen. Ob der Andächtler seinen statutenmäßigen Gang zur Kirche,      
  04 oder ob er eine Wallfahrt nach den Heiligthümern in Loretto oder Palästina      
  05 anstellt, ob er seine Gebetsformeln mit den Lippen, oder wie der      
  06 Tibetaner (welcher glaubt, daß diese Wünsche, auch schriftlich aufgesetzt,      
  07 wenn sie nur durch irgend etwas, z. B. auf Flaggen geschrieben durch      
  08 den Wind, oder in einer Büchse eingeschlossen als eine Schwungmaschine      
  09 mit der Hand, bewegt werden, ihren Zweck eben so gut erreichen) es      
  10 durch ein Gebet=Rad an die himmlische Behörde bringt, oder was für      
  11 ein Surrogat des moralischen Dienstes Gottes es auch immer sein mag,      
  12 das ist alles einerlei und von gleichem Werth. - Es kommt hier nicht      
  13 sowohl auf den Unterschied in der äußern Form, sondern alles auf die      
  14 Annehmung oder Verlassung des alleinigen Princips an, Gott entweder      
  15 nur durch moralische Gesinnung, so fern sie sich in Handlungen als ihrer      
  16 Erscheinung als lebendig darstellt, oder durch frommes Spielwerk und      
  17 Nichtsthuerei wohlgefällig zu werden*). Giebt es aber nicht etwa auch      
  18 einen sich über die Grenzen des menschlichen Vermögens erhebenden      
  19 schwindligen Tugendwahn, der wohl mit dem kriechenden Religionswahn      
  20 in die allgemeine Klasse der Selbsttäuschungen gezählt werden      
  21 könnte? Nein, die Tugendgesinnung beschäftigt sich mit etwas Wirklichem,      
  22 was für sich selbst Gott wohlgefällig ist und zum Weltbesten zusammenstimmt.      
  23 Zwar kann sich dazu ein Wahn des Eigendünkels gesellen,      
  24 der Idee seiner heiligen Pflicht sich für adäquat zu halten; das ist aber      
  25 nur zufällig. In ihr aber den höchsten Werth zu setzen, ist kein Wahn, wie      
  26 etwa der in kirchlichen Andachtübungen, sondern baarer zum Weltbesten      
  27 hinwirkender Beitrag.      
           
  28 Es ist überdem ein (wenigstens kirchlicher) Gebrauch, das, was vermöge      
           
    *) Es ist eine psychologische Erscheinung: daß die Anhänger einer Confession, bei der etwas weniger Statutarisches zu glauben ist, sich dadurch gleichsam veredelt und als aufgeklärter fühlen, ob sie gleich noch genug davon übrig behalten haben, um eben nicht (wie sie doch wirklich thun) von ihrer vermeinten Höhe der Reinigkeit auf ihre Mitbrüder im Kirchenwahne mit Verachtung herabsehen zu dürfen. Die Ursache hievon ist, daß sie sich dadurch, so wenig es auch sei, der reinen moralischen Religion doch etwas genähert finden, ob sie gleich dem Wahne immer noch anhänglich bleiben, sie durch fromme Observanzen, wobei nur weniger passive Vernunft ist, ergänzen zu wollen.      
           
     

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