Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 143 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
| 01 | sondern durch eine bloß moralische , nach Gesetzen der Freiheit mögliche | ||||||
| 02 | Nöthigung, d. i. eine Berufung zur Bürgerschaft im göttlichen Staate, | ||||||
| 03 | bestimmt werden. So ist die Berufung zu diesem Zwecke moralisch ganz | ||||||
| 04 | klar, für die Speculation aber ist die Möglichkeit dieser Berufenen ein undurchdringliches | ||||||
| 05 | Geheimniß. | ||||||
| 06 | 2. Das Geheimniß der Genugthuung. Der Mensch, so wie wir | ||||||
| 07 | ihn kennen, ist verderbt und keinesweges jenem heiligen Gesetze von selbst | ||||||
| 08 | angemessen. Gleichwohl, wenn ihn die Güte Gottes gleichsam ins Dasein | ||||||
| 09 | gerufen, d. i. zu einer besonderen Art zu existiren (zum Gliede des Himmelreichs) | ||||||
| 10 | eingeladen hat, so muß er auch ein Mittel haben, den Mangel seiner | ||||||
| 11 | hierzu erforderlichen Tauglichkeit aus der Fülle seiner eignen Heiligkeit | ||||||
| 12 | zu ersetzen. Dieses ist aber der Spontaneität (welche bei allem moralischen | ||||||
| 13 | Guten oder Bösen, das ein Mensch an sich haben mag, vorausgesetzt | ||||||
| 14 | wird) zuwider, nach welcher ein solches Gute nicht von einem andern, sondern | ||||||
| 15 | von ihm selbst herrühren muß, wenn es ihm soll zugerechnet werden | ||||||
| 16 | können. - Es kann ihn also, soviel die Vernunft einsieht, kein andrer | ||||||
| 17 | durch das Übermaß seines Wohlverhaltens und durch sein Verdienst vertreten; | ||||||
| 18 | oder wenn dieses angenommen wird, so kann es nur in moralischer | ||||||
| 19 | Absicht nothwendig sein, es anzunehmen; denn fürs Vernünfteln ist es | ||||||
| 20 | ein unerreichbares Geheimniß. | ||||||
| 21 | 3. Das Geheimniß der Erwählung. Wenn auch jene stellvertretende | ||||||
| 22 | Genugthuung als möglich eingeräumt wird, so ist doch die moralisch | ||||||
| 23 | gläubige Annehmung derselben eine Willensbestimmung zum Guten, | ||||||
| 24 | die schon eine gottgefällige Gesinnung im Menschen voraussetzt, die | ||||||
| 25 | dieser aber nach dem natürlichen Verderben in sich von selbst nicht hervorbringen | ||||||
| 26 | kann. Daß aber eine himmlische Gnade in ihm wirken solle, die | ||||||
| 27 | diesen Beistand nicht nach Verdienst der Werke, sondern durch unbedingten | ||||||
| 28 | Rathschluß einem Menschen bewilligt, dem andern verweigert, und der | ||||||
| 29 | eine Theil unsers Geschlechts zur Seligkeit, der andere zur ewigen Verwerfung | ||||||
| 30 | ausersehen werde, giebt wiederum keinen Begriff von einer göttlichen | ||||||
| 31 | Gerechtigkeit, sondern müßte allenfalls auf eine Weisheit bezogen | ||||||
| 32 | werden, deren Regel für uns schlechterdings ein Geheimniß ist. | ||||||
| 33 | Über diese Geheimnisse nun, sofern sie die moralische Lebensgeschichte | ||||||
| 34 | jedes Menschen betreffen: wie es nämlich zugeht, daß ein sittlich Gutes | ||||||
| 35 | oder Böses überhaupt in der Welt sei, und (ist das letztere in allen und | ||||||
| 36 | zu jeder Zeit) wie aus dem letztern doch das erstere entspringen und in irgend | ||||||
| 37 | einem Menschen hergestellt werde; oder warum, wenn dieses an | ||||||
| [ Seite 142 ] [ Seite 144 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |
|||||||