Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 112 |
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| 01 | Wenn also gleich eine Schrift als göttliche Offenbarung angenommen | ||||||
| 02 | worden, so wird doch das oberste Kriterium derselben als einer solchen sein: | ||||||
| 03 | "Alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nützlich zur Lehre, zur Strafe, zur | ||||||
| 04 | Besserung u. s. w."; und da das letztere, nämlich die moralische Besserung | ||||||
| 05 | des Menschen, den eigentlichen Zweck aller Vernunftreligion ausmacht, so | ||||||
| 06 | wird diese auch das oberste Princip aller Schriftauslegung enthalten. | ||||||
| 07 | Diese Religion ist "der Geist Gottes, der uns in alle Wahrheit leitet". | ||||||
| 08 | Dieser aber ist derjenige, der, indem er uns belehrt, auch zugleich mit | ||||||
| 09 | Grundsätzen zu Handlungen belebt, und er bezieht alles, was die Schrift | ||||||
| 10 | für den historischen Glauben noch enthalten mag, gänzlich auf die Regeln | ||||||
| 11 | und Triebfedern des reinen moralischen Glaubens, der allein in jedem | ||||||
| 12 | Kirchenglauben dasjenige ausmacht, was darin eigentliche Religion ist. | ||||||
| 13 | Alles Forschen und Auslegen der Schrift muß von dem Princip ausgehen, | ||||||
| 14 | diesen Geist darin zu suchen, und "man kann das ewige Leben darin nur | ||||||
| 15 | finden, sofern sie von diesem Princip zeuget". | ||||||
| 16 | Diesem Schriftausleger ist nun noch ein anderer beigesellt, aber untergeordnet, | ||||||
| 17 | nämlich der Schriftgelehrte. Das Ansehen der Schrift, als | ||||||
| 18 | des würdigsten und jetzt in dem aufgeklärtesten Welttheile einzigen Instruments | ||||||
| 19 | der Vereinigung aller Menschen in eine Kirche, macht den Kirchenglauben | ||||||
| 20 | aus, der als Volksglaube nicht vernachlässigt werden kann, | ||||||
| 21 | weil dem Volke keine Lehre zu einer unveränderlichen Norm tauglich zu | ||||||
| 22 | sein scheint, die auf bloße Vernunft gegründet ist, und es göttliche Offenbarung, | ||||||
| 23 | mithin auch eine historische Beglaubigung ihres Ansehens durch | ||||||
| 24 | die Deduction ihres Ursprungs fordert. Weil nun menschliche Kunst und | ||||||
| 25 | Weisheit nicht bis zum Himmel hinaufsteigen kann, um das Creditiv der | ||||||
| 26 | Sendung des ersten Lehrers selbst nachzusehen, sondern sich mit den Merkmalen, | ||||||
| 27 | die außer dem Inhalt noch von der Art, wie ein solcher Glaube | ||||||
| 28 | introducirt worden, hergenommen werden können, d. i. mit menschlichen | ||||||
| 29 | Nachrichten begnügen muß, die nachgerade in sehr alten Zeiten und jetzt | ||||||
| 30 | todten Sprachen aufgesucht werden müssen, um sie nach ihrer historischen | ||||||
| 31 | Glaubhaftigkeit zu würdigen: so wird Schriftgelehrsamkeit erfordert | ||||||
| 32 | werden, um eine auf heilige Schrift gegründete Kirche, nicht eine Religion | ||||||
| 33 | (denn die muß, um allgemein zu sein, jederzeit auf bloße Vernunft gegründet | ||||||
| 34 | sein) im Ansehen zu erhalten, wenn diese gleich nichts mehr ausmacht, | ||||||
| 35 | als daß jener ihr Ursprung nichts in sich enthält, was die Annahme | ||||||
| 36 | derselben als unmittelbarer göttlichen Offenbarung unmöglich machte; | ||||||
| 37 | welches hinreichend sein würde, um diejenigen, welche in dieser Idee besondere | ||||||
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