Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 040

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 als Begebenheit in der Welt auf ihre Naturursache bezogen wird. Von      
  02 den freien Handlungen als solchen den Zeitursprung (gleich als von Naturwirkungen)      
  03 zu suchen, ist also ein Widerspruch; mithin auch von der      
  04 moralischen Beschaffenheit des Menschen, sofern sie als zufällig betrachtet      
  05 wird, weil diese den Grund des Gebrauchs der Freiheit bedeutet, welcher      
  06 (so wie der Bestimmungsgrund der freien Willkür überhaupt) lediglich      
  07 in Vernunftvorstellungen gesucht werden muß.      
           
  08 Wie nun aber auch der Ursprung des moralischen Bösen im Menschen      
  09 immer beschaffen sein mag, so ist doch unter allen Vorstellungsarten      
  10 von der Verbreitung und Fortsetzung desselben durch alle Glieder unserer      
  11 Gattung und in allen Zeugungen die unschicklichste: es sich als durch Anerbung      
  12 von den ersten Eltern auf uns gekommen vorzustellen; denn man      
  13 kann vom Moralisch=Bösen eben das sagen, was der Dichter vom Guten      
  14 sagt: - genus et proavos, et quae non fecimus ipsi, vix ea nostra      
  15 puto *). - Noch ist zu merken: daß, wenn wir dem Ursprunge des Bösen      
  16 nachforschen, wir anfänglich noch nicht den Hang dazu (als peccatum in      
  17 potentia ) in Anschlag bringen, sondern nur das wirkliche Böse gegebener      
  18 Handlungen nach seiner innern Möglichkeit und dem, was zur Ausübung      
  19 derselben in der Willkür zusammenkommen muß, in Betrachtung ziehen.      
           
           
    *) Die drei sogenannten obern Facultäten (auf hohen Schulen) würden, jede nach ihrer Art, sich diese Vererbung verständlich machen: nämlich entweder als Erbkrankheit, oder Erbschuld, oder Erbsünde. 1) Die medicinische Facultät würde sich das erbliche Böse etwa wie den Bandwurm vorstellen, von welchem wirklich einige Naturkündiger der Meinung sind, daß, da er sonst weder in einem Elemente außer uns, noch (von derselben Art) in irgend einem andern Thiere angetroffen wird, er schon in den ersten Eltern gewesen sein müsse. 2) Die Juristenfacultät würde es als die rechtliche Folge der Antretung einer uns von diesen hinterlassenen, aber mit einem schweren Verbrechen belasteten Erbschaft ansehen (denn geboren werden ist nichts anders, als den Gebrauch der Güter der Erde, so fern sie zu unserer Fortdauer unentbehrlich sind, erwerben). Wir müssen also Zahlung leisten (büßen) und werden am Ende doch (durch den Tod) aus diesem Besitze geworfen. Wie recht ist von Rechts wegen! 3) Die theologische Facultät würde dieses Böse als persönliche Theilnehmung unserer ersten Eltern an dem Abfall eines verworfenen Aufrührers ansehen: entweder daß wir (obzwar jetzt dessen unbewußt) damals selbst mitgewirkt haben; oder nur jetzt, unter seiner (als Fürsten dieser Welt) Herrschaft geboren, uns die Güter derselben mehr, als den Oberbefehl des himmlischen Gebieters gefallen lassen und nicht Treue genug besitzen, uns davon loszureißen, dafür aber künftig auch sein Loos mit ihm theilen müssen.      
           
     

[ Seite 039 ] [ Seite 041 ] [ Inhaltsverzeichnis ]