Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 036

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Der Mensch (selbst der ärgste) thut, in welchen Maximen es auch      
  02 sei, auf das moralische Gesetz nicht gleichsam rebellischerweise (mit Aufkündigung      
  03 des Gehorsams) Verzicht. Dieses dringt sich ihm vielmehr      
  04 Kraft seiner moralischen Anlage unwiderstehlich auf; und wenn keine andere      
  05 Triebfeder dagegen wirkte, so würde er es auch als hinreichenden Bestimmungsgrund      
  06 der Willkür in seine oberste Maxime aufnehmen, d. i.      
  07 Er würde moralisch gut sein. Er hängt aber doch auch vermöge seiner      
  08 gleichfalls schuldlosen Naturanlage an den Triebfedern der Sinnlichkeit      
  09 und nimmt sie (nach dem subjectiven Princip der Selbstliebe) auch in      
  10 seine Maxime auf. Wenn er diese aber, als für sich allein hinreichend      
  11 zur Bestimmung der Willkür, in seine Maxime aufnähme,      
  12 ohne sich ans moralische Gesetz (welches er doch in sich hat) zu kehren, so      
  13 würde er moralisch böse sein. Da er nun natürlicherweise beide in dieselbe      
  14 aufnimmt, da er auch jede für sich, wenn sie allein wäre, zur      
  15 Willensbestimmung hinreichend finden würde: so würde er, wenn der Unterschied      
  16 der Maximen blos auf den Unterschied der Triebfedern (der      
  17 Materie der Maximen), nämlich ob das Gesetz, oder der Sinnenantrieb      
  18 eine solche abgeben, ankäme, moralisch gut und böse zugleich sein/ welches      
  19 sich (nach der Einleitung) widerspricht. Also muß der Unterschied, ob der      
  20 Mensch gut oder böse sei, nicht in dem Unterschiede der Triebfedern, die      
  21 er in seine Maxime aufnimmt (nicht in dieser ihrer Materie), sondern in      
  22 der Unterordnung (der Form derselben) liegen: welche von beiden      
  23 er zur Bedingung der andern macht. Folglich ist der Mensch (auch      
  24 der beste) nur dadurch böse, daß er die sittliche Ordnung der Triebfedern      
  25 in der Aufnehmung derselben in seine Maximen umkehrt: das moralische      
  26 Gesetz zwar neben dem der Selbstliebe in dieselbe aufnimmt, da er aber      
  27 inne wird, daß eines neben dem andern nicht bestehen kann, sondern eines      
  28 dem andern als seiner obersten Bedingung untergeordnet werden müsse,      
  29 er die Triebfeder der Selbstliebe und ihre Neigungen zur Bedingung der      
  30 Befolgung des moralischen Gesetzes macht, da das letztere vielmehr als      
  31 die oberste Bedingung der Befriedigung der ersteren in die allgemeine      
  32 Maxime der Willkür als alleinige Triebfeder aufgenommen werden      
  33 sollte.      
           
  34 Bei dieser Umkehrung der Triebfedern durch seine Maxime wider die      
  35 sittliche Ordnung können die Handlungen dennoch wohl so gesetzmäßig      
  36 ausfallen, als ob sie aus ächten Grundsätzen entsprungen wären: wenn      
  37 die Vernunft die Einheit der Maximen überhaupt, welche dem moralischen      
           
     

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