Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 031 |
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01 | ist), so ist es bloß zufällig, daß diese mit dem Gesetz übereinstimmen: | ||||||
02 | denn sie könnten eben sowohl zur Übertretung antreiben. Die Maxime, | ||||||
03 | nach deren Güte aller moralische Werth der Person geschätzt werden muß, | ||||||
04 | ist also doch gesetzwidrig, und der Mensch ist bei lauter guten Handlungen | ||||||
05 | dennoch böse. | ||||||
06 | Folgende Erläuterung ist noch nöthig, um den Begriff von diesem | ||||||
07 | Hange zu bestimmen. Aller Hang ist entweder physisch, d. i. er gehört | ||||||
08 | zur Willkür des Menschen als Naturwesens; oder er ist moralisch, d. i. | ||||||
09 | zur Willkür desselben als moralischen Wesens gehörig. - Im ersteren | ||||||
10 | Sinne giebt es keinen Hang zum moralisch Bösen, denn dieses muß aus | ||||||
11 | der Freiheit entspringen; und ein physischer Hang (der auf sinnliche Antriebe | ||||||
12 | gegründet ist) zu irgend einem Gebrauche der Freiheit, es sei zum | ||||||
13 | Guten oder Bösen, ist ein Widerspruch. Also kann ein Hang zum Bösen | ||||||
14 | nur dem moralischen Vermögen der Willkür ankleben. Nun ist aber nichts | ||||||
15 | sittlich=(d. i. zurechnungsfähig=)böse, als was unsere eigene That ist. Dagegen | ||||||
16 | versteht man unter dem Begriffe eines Hanges einen subjectiven Bestimmungsgrund | ||||||
17 | der Willkür, der vor jeder That vorhergeht, mithin | ||||||
18 | selbst noch nicht That ist; da denn in dem Begriffe eines bloßen Hanges | ||||||
19 | zum Bösen ein Widerspruch sein würde, wenn dieser Ausdruck nicht etwa | ||||||
20 | in zweierlei verschiedener Bedeutung, die sich beide doch mit dem Begriffe | ||||||
21 | der Freiheit vereinigen lassen, genommen werden könnte. Es kann aber | ||||||
22 | der Ausdruck von einer That überhaupt sowohl von demjenigen Gebrauch | ||||||
23 | der Freiheit gelten, wodurch die oberste Maxime (dem Gesetze gemäß oder | ||||||
24 | zuwider) in die Willkür aufgenommen, als auch von demjenigen, da die | ||||||
25 | Handlungen selbst (ihrer Materie nach, d. i. die Objecte der Willkür betreffend) | ||||||
26 | jener Maxime gemäß ausgeübt werden. Der Hang zum Bösen | ||||||
27 | ist nun That in der ersten Bedeutung ( peccatum originarium ) und zugleich | ||||||
28 | der formale Grund aller gesetzwidrigen That im zweiten Sinne genommen, | ||||||
29 | welche der Materie nach demselben widerstreitet und Laster | ||||||
30 | ( peccatum derivativum ) genannt wird; und die erste Verschuldung bleibt, | ||||||
31 | wenn gleich die zweite (aus Triebfedern, die nicht im Gesetz selber bestehen) | ||||||
32 | vielfältig vermieden würde. Jene ist intelligibele That, bloß | ||||||
33 | durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung erkennbar; diese sensibel, empirisch, | ||||||
34 | in der Zeit gegeben ( factum phaenomenon ). Die erste heißt | ||||||
35 | nun vornehmlich in Vergleichung mit der zweiten ein bloßer Hang und | ||||||
36 | angeboren, weil er nicht ausgerottet werden kann (als wozu die oberste | ||||||
37 | Maxime die des Guten sein müßte, welche aber in jenem Hange selbst | ||||||
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