Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 335 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | ästhetische Ideen erwecken, animalische, d. i. körperliche, Empfindung sei; | ||||||
02 | ohne dadurch dem geistigen Gefühl der Achtung für moralische Ideen, | ||||||
03 | welches kein Vergnügen ist, sondern eine Selbstschätzung (der Menschheit | ||||||
04 | in uns), die uns über das Bedürfniß desselben erhebt, ja selbst nicht | ||||||
05 | einmal dem minder edlen des Geschmacks im mindesten Abbruch zu thun. | ||||||
06 | Etwas aus beiden Zusammengesetztes findet sich in der Naivität, | ||||||
07 | die der Ausbruch der der Menschheit ursprünglich natürlichen Aufrichtigkeit | ||||||
08 | wider die zur andern Natur gewordene Verstellungskunst ist. Man | ||||||
09 | lacht über die Einfalt, die es noch nicht versteht sich zu verstellen; und erfreut | ||||||
10 | sich doch auch über die Einfalt der Natur, die jener Kunst hier einen | ||||||
11 | Querstrich spielt. Man erwartete die alltägliche Sitte der gekünstelten und | ||||||
12 | auf den schönen Schein vorsichtig angelegten Äußerung; und siehe! Es ist | ||||||
13 | die unverdorbne, schuldlose Natur, die man anzutreffen gar nicht gewärtig | ||||||
14 | und die der, welcher sie blicken ließ, zu entblößen auch nicht gemeint war. | ||||||
15 | Daß der schöne, aber falsche Schein, der gewöhnlich in unserm Urtheile | ||||||
16 | sehr viel bedeutet, hier plötzlich in Nichts verwandelt, daß gleichsam der | ||||||
17 | Schalk in uns selbst bloßgestellt wird, bringt die Bewegung des Gemüths | ||||||
18 | nach zwei entgegengesetzten Richtungen nach einander hervor, die zugleich | ||||||
19 | den Körper heilsam schüttelt. Daß aber etwas, was unendlich besser als | ||||||
20 | alle angenommene Sitte ist, die Lauterkeit der Denkungsart (wenigstens | ||||||
21 | die Anlage dazu), doch nicht ganz in der menschlichen Natur erloschen ist, | ||||||
22 | mischt Ernst und Hochschätzung in dieses Spiel der Urtheilskraft. Weil | ||||||
23 | es aber nur eine auf kurze Zeit sich hervorthuende Erscheinung ist, und | ||||||
24 | die Decke der Verstellungskunst bald wieder vorgezogen wird: so mengt | ||||||
25 | sich zugleich ein Bedauren darunter, welches eine Rührung der Zärtlichkeit | ||||||
26 | ist, die sich als Spiel mit einem solchen gutherzigen Lachen sehr wohl verbinden | ||||||
27 | läßt und auch wirklich damit gewöhnlich verbindet, zugleich auch | ||||||
28 | demjenigen, der den Stoff dazu hergiebt, die Verlegenheit darüber, daß | ||||||
29 | er noch nicht nach Menschenweise gewitzigt ist, zu vergüten pflegt. - Eine | ||||||
30 | Kunst, naiv zu sein, ist daher ein Widerspruch; allein die Naivität in | ||||||
31 | einer erdichteten Person vorzustellen, ist wohl möglich und schöne, obzwar | ||||||
32 | auch seltene Kunst. Mit der Naivität muß offenherzige Einfalt, welche | ||||||
33 | die Natur nur darum nicht verkünstelt, weil sie sich darauf nicht versteht, | ||||||
34 | was Kunst des Umganges sei, nicht verwechselt werden. | ||||||
35 | Zu dem, was aufmunternd, mit dem Vergnügen aus dem Lachen | ||||||
36 | nahe verwandt und zur Originalität des Geistes, aber eben nicht zum | ||||||
37 | Talent der schönen Kunst gehörig ist, kann auch die launichte Manier | ||||||
[ Seite 334 ] [ Seite 336 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |