Kant: AA V, Kritik der praktischen ... , Seite 037

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 zu aller Zeit, der empirisch=bedingten Vorschrift der Glückseligkeit, nur selten      
  02 und bei weitem nicht auch nur in Ansehung einer einzigen Absicht für jedermann      
  03 möglich. Die Ursache ist, weil es bei dem ersteren nur auf die Maxime ankommt,      
  04 die ächt und rein sein muß, bei der letzteren aber auch auf die Kräfte und das physische      
  05 Vermögen, einen begehrten Gegenstand wirklich zu machen. Ein Gebot, daß      
  06 jedermann sich glücklich zu machen suchen sollte, wäre thöricht; denn man gebietet      
  07 niemals jemanden das, was er schon unausbleiblich von selbst will. Man müßte      
  08 ihm blos die Maßregeln gebieten, oder vielmehr darreichen, weil er nicht alles das      
  09 kann, was er will. Sittlichkeit aber gebieten unter dem Namen der Pflicht, ist ganz      
  10 vernünftig; denn deren Vorschrift will erstlich eben nicht jedermann gerne gehorchen,      
  11 wenn sie mit Neigungen im Widerstreite ist, und was die Maßregeln betrifft,      
  12 wie er dieses Gesetz befolgen könne, so dürfen diese hier nicht gelehrt werden; denn      
  13 was er in dieser Beziehung will, das kann er auch.      
           
  14 Der im Spiel verloren hat, kann sich wohl über sich selbst und seine Unklugheit      
  15 ärgern, aber wenn er sich bewußt ist, im Spiel betrogen (obzwar dadurch      
  16 gewonnen) zu haben, so muß er sich selbst verachten, so bald er sich mit dem      
  17 sittlichen Gesetze vergleicht. Dieses muß also doch wohl etwas Anderes, als das      
  18 Princip der eigenen Glückseligkeit sein. Denn zu sich selber sagen zu müssen: ich bin      
  19 ein Nichtswürdiger, ob ich gleich meinen Beutel gefüllt habe, muß doch ein      
  20 anderes Richtmaß des Urtheils haben, als sich selbst Beifall zu geben und zu sagen:      
  21 ich bin ein kluger Mensch, denn ich habe meine Casse bereichert.      
           
  22 Endlich ist noch etwas in der Idee unserer praktischen Vernunft, welches die      
  23 Übertretung eines sittlichen Gesetzes begleitet, nämlich ihre Strafwürdigkeit.      
  24 Nun läßt sich mit dem Begriffe einer Strafe, als einer solchen, doch gar nicht das      
  25 Theilhaftigwerden der Glückseligkeit verbinden. Denn obgleich der, so da straft,      
  26 wohl zugleich die gütige Absicht haben kann, diese Strafe auch auf diesen Zweck zu      
  27 richten, so muß sie doch zuvor als Strafe, d. i. als bloßes Übel, für sich selbst gerechtfertigt      
  28 sein, so daß der Gestrafte, wenn es dabei bliebe, und er auch auf keine sich      
  29 hinter dieser Härte verbergende Gunst hinaussähe, selbst gestehen muß, es sei ihm      
  30 Recht geschehen, und sein Loos sei seinem Verhalten vollkommen angemessen. In      
  31 jeder Strafe als solcher muß zuerst Gerechtigkeit sein, und diese macht das Wesentliche      
  32 dieses Begriffs aus. Mit ihr kann zwar auch Gütigkeit verbunden werden,      
  33 aber auf diese hat der Strafwürdige nach seiner Aufführung nicht die mindeste Ursache      
  34 sich Rechnung zu machen. Also ist Strafe ein physisches Übel, welches, wenn      
  35 es auch nicht als natürliche Folge mit dem moralisch Bösen verbunden wäre,      
  36 doch als Folge nach Principien einer sittlichen Gesetzgebung verbunden werden      
  37 müßte. Wenn nun alles Verbrechen, auch ohne auf die physischen Folgen in Ansehung      
  38 des Thäters zu sehen, für sich strafbar ist, d. i. Glückseligkeit (wenigstens      
  39 zum Theil) verwirkt, so wäre es offenbar ungereimt zu sagen: das Verbrechen habe      
  40 darin eben bestanden, daß er sich eine Strafe zugezogen hat, indem er seiner eigenen      
           
     

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