Kant: AA V, Kritik der praktischen ... , Seite 010

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Privatabsicht im Wege sein könnte); und so werde ich es auch fernerhin      
  02 halten.      
           
  03 Wenn es um die Bestimmung eines besonderen Vermögens der      
  04 menschlichen Seele nach seinen Quellen, Inhalte und Grenzen zu thun ist,      
  05 so kann man zwar nach der Natur des menschlichen Erkenntnisses nicht      
  06 anders als von den Theilen derselben, ihrer genauen und (so viel als      
  07 nach der jetzigen Lage unserer schon erworbenen Elemente derselben möglich      
  08 ist) vollständigen Darstellung anfangen. Aber es ist noch eine zweite      
  09 Aufmerksamkeit, die mehr philosophisch und architektonisch ist: nämlich      
  10 die Idee des Ganzen richtig zu fassen und aus derselben alle jene Theile      
  11 in ihrer wechselseitigen Beziehung auf einander vermittelst der Ableitung      
  12 derselben von dem Begriffe jenes Ganzen in einem reinen Vernunftvermögen      
  13 ins Auge zu fassen. Diese Prüfung und Gewährleistung ist nur      
  14 durch die innigste Bekanntschaft mit dem System möglich, und die, welche      
  15 in Ansehung der ersteren Nachforschung verdrossen gewesen, also diese Bekanntschaft      
  16 zu erwerben nicht der Mühe werth geachtet haben, gelangen      
  17 nicht zur zweiten Stufe, nämlich der Übersicht, welche eine synthetische      
  18 Wiederkehr zu demjenigen ist, was vorher analytisch gegeben worden,      
  19 und es ist kein Wunder, wenn sie allerwärts Inconsequenzen finden, obgleich      
  20 die Lücken, die diese vermuthen lassen, nicht im System selbst,      
  21 sondern blos in ihrem eigenen unzusammenhängenden Gedankengange      
  22 anzutreffen sind.      
           
  23 Ich besorge in Ansehung dieser Abhandlung nichts von dem Vorwurfe,      
  24 eine neue Sprache einführen zu wollen, weil die Erkenntnißart sich hier      
  25 von selbst der Popularität nähert. Dieser Vorwurf konnte auch niemanden      
  26 in Ansehung der ersteren Kritik beifallen, der sie nicht blos durchgeblättert,      
  27 sondern durchgedacht hatte. Neue Worte zu künsteln, wo die      
  28 Sprache schon so an Ausdrücken für gegebene Begriffe keinen Mangel      
  29 hat, ist eine kindische Bemühung, sich unter der Menge, wenn nicht durch      
  30 neue und wahre Gedanken, doch durch einen neuen Lappen auf dem alten      
  31 Kleide auszuzeichnen. Wenn daher die Leser jener Schrift populärere      
  32 Ausdrücke wissen, die doch dem Gedanken eben so angemessen sind, als      
  33 mir jene zu sein scheinen, oder etwa die Nichtigkeit dieser Gedanken selbst,      
  34 mithin zugleich jedes Ausdrucks, der ihn bezeichnet, darzuthun sich getrauen:      
  35 so würden sie mich durch das erstere sehr verbinden, denn ich will      
  36 nur verstanden sein, in Ansehung des zweiten aber sich ein Verdienst um      
  37 die Philosophie erwerben. So lange aber jene Gedanken noch stehen,      
           
     

[ Seite 009 ] [ Seite 011 ] [ Inhaltsverzeichnis ]