Kant: AA IV, Metaphysische Anfangsgründe ... , Seite 507

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 wir nur immer Theilen mögen. Denn die Theile, als zur Existenz einer Erscheinung      
  02 gehörig, existiren nur in Gedanken, nämlich in der Theilung selbst. Nun geht zwar      
  03 die Theilung ins Unendliche, aber sie ist doch niemals als unendlich gegeben: also      
  04 folgt daraus nicht, daß das Theilbare eine unendliche Menge Theile an sich      
  05 selbst und außer unserer Vorstellung in sich enthalte, darum weil seine Theilung      
  06 ins Unendliche geht. Denn es ist nicht das Ding, sondern nur diese Vorstellung      
  07 desselben, deren Theilung, ob sie zwar ins Unendliche fortgesetzt werden kann, und      
  08 im Objecte (das an sich unbekannt ist) dazu auch ein Grund ist, dennoch niemals      
  09 vollendet, folglich ganz gegeben werden kann und also auch keine wirkliche unendliche      
  10 Menge im Objecte (als die ein ausdrücklicher Widerspruch sein würde) beweiset.      
  11 Ein großer Mann, der vielleicht mehr als sonst jemand das Ansehen der      
  12 Mathematik in Deutschland zu erhalten beiträgt, hat mehrmals die metaphysischen      
  13 Anmaßungen, Lehrsätze der Geometrie von der unendlichen Theilbarkeit des Raums      
  14 umzustoßen, durch die gegründete Erinnerung abgewiesen: daß der Raum nur      
  15 zu der Erscheinung äußerer Dinge gehöre; allein er ist nicht verstanden      
  16 worden. Man nahm diesen Satz so, als ob er sagen wollte: der Raum erscheine      
  17 uns selbst, sonst sei er eine Sache oder Verhältniß der Sachen an sich selbst, der      
  18 Mathematiker betrachtete ihn aber nur, wie er erscheint; anstatt daß sie darunter      
  19 hätten verstehen sollen, der Raum sei gar keine Eigenschaft, die irgend einem Dinge      
  20 außer unseren Sinnen an sich anhängt, sondern nur die subjective Form unserer      
  21 Sinnlichkeit, unter welcher uns Gegenstände äußerer Sinne, die wir, wie sie an      
  22 sich beschaffen sind, nicht kennen, erscheinen, welche Erscheinung wir denn Materie      
  23 nennen. Bei jener Mißdeutung dachte man sich den Raum immer noch als eine      
  24 den Dingen auch außer unserer Vorstellungskraft anhängende Beschaffenheit, die      
  25 sich aber der Mathematiker nur nach gemeinen Begriffen, d. i. verworren, denkt,      
  26 (denn so erklärt man gemeinhin Erscheinung) und schrieb also den mathematischen      
  27 Lehrsatz von der unendlichen Theilbarkeit der Materie, einen Satz, der die höchste      
  28 Deutlichkeit in dem Begriffe des Raums voraussetzt, einer verworrenen Vorstellung      
  29 vom Raume, die der Geometer zum Grunde legte, zu, wobei es denn dem      
  30 Metaphysiker unbenommen blieb, den Raum aus Punkten und die Materie aus      
  31 einfachen Theilen zusammen zu setzen und so (seiner Meinung nach) Deutlichkeit      
  32 in diesen Begriff zu bringen. Der Grund dieser Verirrung liegt in einer übelverstandenen      
  33 Monadologie, die gar nicht zur Erklärung der Naturerscheinungen      
  34 gehört, sondern ein von Leibnizen ausgeführter, an sich richtiger platonischer      
  35 Begriff von der Welt ist, so fern sie gar nicht als Gegenstand der Sinne, sondern      
  36 als Ding an sich selbst betrachtet, blos ein Gegenstand des Verstandes ist, der aber      
  37 doch den Erscheinungen der Sinne zum Grunde liegt. Nun muß freilich das Zusammengesetzte      
  38 der Dinge an sich selbst aus dem Einfachen bestehen; denn      
  39 die Theile müssen hier vor aller Zusammensetzung gegeben sein. Aber das Zusammengesetzte      
  40 in der Erscheinung besteht nicht aus dem Einfachen, weil      
           
     

[ Seite 506 ] [ Seite 508 ] [ Inhaltsverzeichnis ]