Kant: AA IV, Metaphysische Anfangsgründe ... , Seite 506

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Lehrsatz abgeholfen worden. Was nun aber die übrigen Angriffe der      
  02 Metaphysik auf den nunmehr physischen Lehrsatz der unendlichen Theilbarkeit      
  03 der Materie betrifft, so muß sie der Mathematiker gänzlich dem Philosophen      
  04 überlassen, der ohnedem durch diese Einwürfe sich selbst in ein Labyrinth begiebt,      
  05 woraus es ihm schwer wird auch in den ihn unmittelbar angehenden Fragen herauszufinden,      
  06 und also mit sich selbst genug zu thun hat, ohne daß der Mathematiker      
  07 sich in dieses Geschäfte dürfte einflechten lassen. Wenn nämlich die Materie ins      
  08 Unendliche theilbar ist, so (schließt der dogmatische Metaphysiker) besteht sie aus      
  09 einer unendlichen Menge von Theilen; denn ein Ganzes muß doch alle die      
  10 Theile zum voraus insgesammt schon in sich enthalten, in die es getheilt werden      
  11 kann. Der letztere Satz ist auch von einem jeden Ganzen als Dinge an sich      
  12 selbst ungezweifelt gewiß, mithin, da man doch nicht einräumen kann, die Materie,      
  13 ja gar selbst nicht einmal der Raum bestehe aus unendlich viel Theilen (weil      
  14 es ein Widerspruch ist, eine unendliche Menge, deren Begriff es schon mit sich      
  15 führt, daß sie niemals vollendet vorgestellt werden könne, sich als ganz vollendet      
  16 zu denken), so müsse man sich zu einem entschließen, entweder dem Geometer zum      
  17 Trotz zu sagen: der Raum ist nicht ins Unendliche theilbar, oder dem      
  18 Metaphysiker zur Ärgerniß: der Raum ist keine Eigenschaft eines Dinges      
  19 an sich selbst und also die Materie kein Ding an sich selbst, sondern bloße Erscheinung      
  20 unserer äußeren Sinne überhaupt, so wie der Raum die wesentliche Form      
  21 derselben.      
           
  22 Hier geräth nun der Philosoph in ein Gedränge zwischen den Hörnern eines      
  23 gefährlichen Dilemmas. Den ersteren Satz, daß der Raum ins Unendliche theilbar      
  24 sei, abzuleugnen, ist ein leeres Unterfangen, denn Mathematik läßt sich nichts wegvernünfteln;      
  25 Materie aber als Ding an sich selbst, mithin den Raum als Eigenschaft      
  26 der Dinge an sich selbst Ansehen und dennoch jenen Satz ableugnen, ist einerlei.      
  27 Er sieht sich also nothgedrungen, von der letzteren Behauptung, so gemein      
  28 und dem gemeinen Verstande gemäß sie auch sei, abzugehen, aber natürlicher Weise      
  29 nur unter dem Beding, daß man ihn auf den Fall, daß er Materie und Raum nur      
  30 zur Erscheinung (mithin letzteren nur zur Form unserer äußeren sinnlichen Anschauung,      
  31 also beide nicht zu Sachen an sich, sondern nur zu subjectiven Vorstellungsarten      
  32 uns an sich unbekannter Gegenstände) machte, alsdann auch aus      
  33 jener Schwierigkeit wegen unendlicher Theilbarkeit der Materie, wobei sie      
  34 doch nicht aus unendlich viel Theilen bestehe, heraushelfe. Dieses letztere      
  35 läßt sich nun ganz wohl durch die Vernunft denken, obgleich unmöglich anschaulich      
  36 machen und construiren. Denn was nur dadurch wirklich ist, daß es in der Vorstellung      
  37 gegeben ist, davon ist auch nicht mehr gegeben, als so viel in der Vorstellung      
  38 angetroffen wird, d. i. so weit der Progressus der Vorstellungen reicht.      
  39 Also von Erscheinungen, deren Theilung ins Unendliche geht, kann man nur sagen,      
  40 daß der Theile der Erscheinung so viel sind, als wir deren nur geben, d. i. so weit      
           
     

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