Kant: AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der ... , Seite 404 |
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01 | Es wäre hier leicht zu zeigen, wie sie mit diesem Compasse in der Hand | ||||||
02 | in allen vorkommenden Fällen sehr gut Bescheid wisse, zu unterscheiden, | ||||||
03 | was gut, was böse, pflichtmäßig, oder pflichtwidrig sei, wenn man, ohne | ||||||
04 | sie im mindesten etwas Neues zu lehren, sie nur, wie Sokrates that, auf | ||||||
05 | ihr eigenes Princip aufmerksam macht, und daß es also keiner Wissenschaft | ||||||
06 | und Philosophie bedürfe, um zu wissen, was man zu thun habe, um ehrlich | ||||||
07 | und gut, ja sogar um weise und tugendhaft zu sein. Das ließe sich | ||||||
08 | auch wohl schon zum voraus vermuthen, daß die Kenntniß dessen, was zu | ||||||
09 | thun, mithin auch zu wissen jedem Menschen obliegt, auch jedes, selbst des | ||||||
10 | gemeinsten Menschen Sache sein werde. Hier kann man es doch nicht ohne | ||||||
11 | Bewunderung Ansehen, wie das praktische Beurtheilungsvermögen vor | ||||||
12 | dem theoretischen im gemeinen Menschenverstande so gar viel voraus habe. | ||||||
13 | In dem letzteren, wenn die gemeine Vernunft es wagt, von den Erfahrungsgesetzen | ||||||
14 | und den Wahrnehmungen der Sinne abzugehen, geräth sie | ||||||
15 | in lauter Unbegreiflichkeiten und Widersprüche mit sich selbst, wenigstens | ||||||
16 | in ein Chaos von Ungewißheit, Dunkelheit und Unbestand. Im praktischen | ||||||
17 | aber fängt die Beurtheilungskraft dann eben allererst an, sich recht vortheilhaft | ||||||
18 | zu zeigen, wenn der gemeine Verstand alle sinnliche Triebfedern | ||||||
19 | von praktischen Gesetzen ausschließt. Er wird alsdann sogar subtil, es | ||||||
20 | mag sein, daß er mit seinem Gewissen oder anderen Ansprüchen in Beziehung | ||||||
21 | auf das, was Recht heißen soll, chicaniren, oder auch den Werth | ||||||
22 | der Handlungen zu seiner eigenen Belehrung aufrichtig bestimmen will, | ||||||
23 | und was das meiste ist, er kann im letzteren Falle sich eben so gut Hoffnung | ||||||
24 | machen, es recht zu treffen, als es sich immer ein Philosoph versprechen | ||||||
25 | mag, ja ist beinahe noch sicherer hierin, als selbst der letztere, weil | ||||||
26 | dieser doch kein anderes Princip als jener haben, sein Urtheil aber durch | ||||||
27 | eine Menge fremder, nicht zur Sache gehöriger Erwägungen leicht verwirren | ||||||
28 | und von der geraden Richtung abweichend machen kann. Wäre es | ||||||
29 | demnach nicht rathsamer, es in moralischen Dingen bei dem gemeinen | ||||||
30 | Vernunfturtheil bewenden zu lassen und höchstens nur Philosophie anzubringen, | ||||||
31 | um das System der Sitten desto vollständiger und faßlicher, imgleichen | ||||||
32 | die Regeln derselben zum Gebrauche (noch mehr aber zum Disputiren) | ||||||
33 | bequemer darzustellen, nicht aber um selbst in praktischer Absicht | ||||||
34 | den gemeinen Menschenverstand von seiner glücklichen Einfalt abzubringen | ||||||
35 | und ihn durch Philosophie auf einen neuen Weg der Untersuchung und | ||||||
36 | Belehrung zu bringen? | ||||||
37 | Es ist eine herrliche Sache um die Unschuld, nur ist es auch wiederum | ||||||
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