Kant: AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der ... , Seite 403 |
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01 | Klugheit abtrünnig, so kann das mir doch manchmal sehr vortheilhaft sein, | ||||||
02 | wiewohl es freilich sicherer ist, bei ihr zu bleiben. Um indessen mich in | ||||||
03 | Ansehung der Beantwortung dieser Aufgabe, ob ein lügenhaftes Versprechen | ||||||
04 | pflichtmäßig sei, auf die allerkürzeste und doch untrügliche Art zu | ||||||
05 | belehren, so frage ich mich selbst: würde ich wohl damit zufrieden sein, daß | ||||||
06 | meine Maxime (mich durch ein unwahres Versprechen aus Verlegenheit | ||||||
07 | zu ziehen) als ein allgemeines Gesetz (sowohl für mich als andere) gelten | ||||||
08 | solle, und würde ich wohl zu mir sagen können: es mag jedermann ein unwahres | ||||||
09 | Versprechen thun, wenn er sich in Verlegenheit befindet, daraus | ||||||
10 | er sich auf andere Art nicht ziehen kann? So werde ich bald inne, daß ich | ||||||
11 | zwar die Lüge, aber ein allgemeines Gesetz zu lügen gar nicht wollen könne; | ||||||
12 | denn nach einem solchen würde es eigentlich gar kein Versprechen geben, | ||||||
13 | weil es vergeblich wäre, meinen Willen in Ansehung meiner künftigen | ||||||
14 | Handlungen andern vorzugeben, die diesem Vorgeben doch nicht Glauben, | ||||||
15 | oder, wenn sie es übereilter Weise thäten, mich doch mit gleicher Münze | ||||||
16 | bezahlen würden, mithin meine Maxime, so bald sie zum allgemeinen Gesetze | ||||||
17 | gemacht würde, sich selbst zerstören müsse. | ||||||
18 | Was ich also zu thun habe, damit mein Wollen sittlich gut sei, dazu | ||||||
19 | brauche ich gar keine weit ausholende Scharfsinnigkeit. Unerfahren in | ||||||
20 | Ansehung des Weltlaufs, unfähig auf alle sich eräugnende Vorfälle desselben | ||||||
21 | gefaßt zu sein, frage ich mich nur: kannst du auch wollen, daß | ||||||
22 | deine Maxime ein allgemeines Gesetz werde? Wo nicht, so ist sie verwerflich | ||||||
23 | und das zwar nicht um eines dir oder auch anderen daraus bevorstehenden | ||||||
24 | Nachtheils willen, sondern weil sie nicht als Princip in eine | ||||||
25 | mögliche allgemeine Gesetzgebung passen kann; für diese aber zwingt mir | ||||||
26 | die Vernunft unmittelbare Achtung ab, von der ich zwar jetzt noch nicht | ||||||
27 | einsehe, worauf sie sich gründe (welches der Philosoph untersuchen mag), | ||||||
28 | wenigstens aber doch so viel verstehe: daß es eine Schätzung des Werthes | ||||||
29 | sei, welcher allen Werth dessen, was durch Neigung angepriesen wird, weit | ||||||
30 | überwiegt, und daß die Nothwendigkeit meiner Handlungen aus reiner | ||||||
31 | Achtung fürs praktische Gesetz dasjenige sei, was die Pflicht ausmacht, der | ||||||
32 | jeder andere Bewegungsgrund weichen muß, weil sie die Bedingung eines | ||||||
33 | an sich guten Willens ist, dessen Werth über alles geht. | ||||||
34 | So sind wir denn in der moralischen Erkenntniß der gemeinen Menschenvernunft | ||||||
35 | bis zu ihrem Princip gelangt, welches sie sich zwar freilich | ||||||
36 | nicht so in einer allgemeinen Form abgesondert denkt, aber doch jederzeit | ||||||
37 | wirklich vor Augen hat und zum Richtmaße ihrer Beurtheilung braucht. | ||||||
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