Kant: AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der ... , Seite 399 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | und ohne alle Vergleichung der höchste ist, nämlich daß er wohlthue, nicht | ||||||
02 | aus Neigung, sondern aus Pflicht. | ||||||
03 | Seine eigene Glückseligkeit sichern, ist Pflicht (wenigstens indirect), | ||||||
04 | denn der Mangel der Zufriedenheit mit seinem Zustande in einem Gedränge | ||||||
05 | von vielen Sorgen und mitten unter unbefriedigten Bedürfnissen | ||||||
06 | könnte leicht eine große Versuchung zu Übertretung der Pflichten | ||||||
07 | werden. Aber auch ohne hier auf Pflicht zu sehen, haben alle Menschen | ||||||
08 | schon von selbst die mächtigste und innigste Neigung zur Glückseligkeit, | ||||||
09 | weil sich gerade in dieser Idee alle Neigungen zu einer Summe vereinigen. | ||||||
10 | Nur ist die Vorschrift der Glückseligkeit mehrentheils so beschaffen, | ||||||
11 | daß sie einigen Neigungen großen Abbruch thut und doch der Mensch sich | ||||||
12 | von der Summe der Befriedigung aller unter dem Namen der Glückseligkeit | ||||||
13 | keinen bestimmten und sichern Begriff machen kann; daher nicht zu | ||||||
14 | verwundern ist, wie eine einzige in Ansehung dessen, was sie verheißt, und | ||||||
15 | der Zeit, worin ihre Befriedigung erhalten werden kann, bestimmte Neigung | ||||||
16 | eine schwankende Idee überwiegen könne, und der Mensch, z. B. ein | ||||||
17 | Podagrist, wählen könne, zu genießen, was ihm schmeckt, und zu leiden, | ||||||
18 | was er kann, weil er nach seinem Überschlage hier wenigstens sich nicht | ||||||
19 | durch vielleicht grundlose Erwartungen eines Glücks, das in der Gesundheit | ||||||
20 | stecken soll, um den Genuß des gegenwärtigen Augenblicks gebracht | ||||||
21 | hat. Aber auch in diesem Falle, wenn die allgemeine Neigung zur Glückseligkeit | ||||||
22 | seinen Willen nicht bestimmte, wenn Gesundheit für ihn wenigstens | ||||||
23 | nicht so nothwendig in diesen Überschlag gehörte, so bleibt noch hier | ||||||
24 | wie in allen andern Fällen ein Gesetz übrig, nämlich seine Glückseligkeit | ||||||
25 | zu befördern, nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht, und da hat sein | ||||||
26 | Verhalten allererst den eigentlichen moralischen Werth. | ||||||
27 | So sind ohne Zweifel auch die Schriftstellen zu verstehen, darin geboten | ||||||
28 | wird, seinen Nächsten, selbst unsern Feind zu lieben. Denn Liebe | ||||||
29 | als Neigung kann nicht geboten werden, aber Wohlthun aus Pflicht selbst, | ||||||
30 | wenn dazu gleich gar keine Neigung treibt, ja gar natürliche und unbezwingliche | ||||||
31 | Abneigung widersteht, ist praktische und nicht pathologische | ||||||
32 | Liebe, die im Willen liegt und nicht im Hange der Empfindung, in | ||||||
33 | Grundsätzen der Handlung und nicht schmelzender Theilnehmung; jene | ||||||
34 | aber allein kann geboten werden. | ||||||
35 | Der zweite Satz ist: eine Handlung aus Pflicht hat ihren moralischen | ||||||
36 | Werth nicht in der Absicht, welche dadurch erreicht werden soll, | ||||||
37 | sondern in der Maxime, nach der sie beschlossen wird, hängt also nicht von | ||||||
[ Seite 398 ] [ Seite 400 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |