Kant: AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der ... , Seite 397 |
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01 | Um aber den Begriff eines an sich selbst hochzuschätzenden und ohne | ||||||
02 | weitere Absicht guten Willens, so wie er schon dem natürlichen gesunden | ||||||
03 | Verstande beiwohnt und nicht sowohl gelehrt als vielmehr nur aufgeklärt | ||||||
04 | zu werden Bedarf, diesen Begriff, der in der Schätzung des ganzen Werths | ||||||
05 | unserer Handlungen immer obenan steht und die Bedingung alles übrigen | ||||||
06 | ausmacht, zu entwickeln: wollen wir den Begriff der Pflicht vor uns | ||||||
07 | nehmen, der den eines guten Willens, obzwar unter gewissen subjectiven | ||||||
08 | Einschränkungen und Hindernissen, enthält, die aber doch, weit gefehlt daß | ||||||
09 | sie ihn verstecken und unkenntlich machen sollten, ihn vielmehr durch Abstechung | ||||||
10 | heben und desto heller hervorscheinen lassen. | ||||||
11 | Ich übergehe hier alle Handlungen, die schon als pflichtwidrig erkannt | ||||||
12 | werden, ob sie gleich in dieser oder jener Absicht nützlich sein mögen; | ||||||
13 | denn bei denen ist gar nicht einmal die Frage, ob sie aus Pflicht geschehen | ||||||
14 | sein mögen, da sie dieser sogar widerstreiten. Ich setze auch die Handlungen | ||||||
15 | bei Seite, die wirklich pflichtmäßig sind, zu denen aber Menschen | ||||||
16 | unmittelbar keine Neigung haben, sie aber dennoch ausüben, weil sie | ||||||
17 | durch eine andere Neigung dazu getrieben werden. Denn da läßt sich leicht | ||||||
18 | unterscheiden, ob die pflichtmäßige Handlung aus Pflicht oder aus selbstsüchtiger | ||||||
19 | Absicht geschehen sei. Weit schwerer ist dieser Unterschied zu bemerken, | ||||||
20 | wo die Handlung pflichtmäßig ist und das Subject noch überdem | ||||||
21 | unmittelbare Neigung zu ihr hat. Z. B. es ist allerdings pflichtmäßig, | ||||||
22 | daß der Krämer seinen unerfahrnen Käufer nicht übertheure, und, wo viel | ||||||
23 | Verkehr ist, thut dieses auch der kluge Kaufmann nicht, sondern hält einen | ||||||
24 | festgesetzten allgemeinen Preis für jedermann, so daß ein Kind eben so | ||||||
25 | gut bei ihm kauft, als jeder andere. Man wird also ehrlich bedient; allein | ||||||
26 | das ist lange nicht genug, um deswegen zu glauben, der Kaufmann | ||||||
27 | habe aus Pflicht und Grundsätzen der Ehrlichkeit so verfahren; sein Vortheil | ||||||
28 | erforderte es; daß er aber überdem noch eine unmittelbare Neigung | ||||||
29 | zu den Käufern haben sollte, um gleichsam aus Liebe keinem vor dem andern | ||||||
30 | im Preise den Vorzug zu geben, läßt sich hier nicht annehmen. Also | ||||||
31 | war die Handlung weder aus Pflicht, noch aus unmittelbarer Neigung, | ||||||
32 | sondern bloß in eigennütziger Absicht Geschehen. | ||||||
33 | Dagegen sein Leben zu erhalten, ist Pflicht, und überdem hat jedermann | ||||||
34 | dazu noch eine unmittelbare Neigung. Aber um deswillen hat die | ||||||
35 | oft ängstliche Sorgfalt, die der größte Theil der Menschen dafür trägt, | ||||||
36 | doch keinen innern Werth und die Maxime derselben keinen moralischen | ||||||
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