Kant: AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der ... , Seite 396 |
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01 | den Hals gezogen, als an Glückseligkeit gewonnen haben und darüber | ||||||
02 | endlich den gemeinern Schlag der Menschen, welcher der Leitung des bloßen | ||||||
03 | Naturinstincts näher ist, und der seiner Vernunft nicht viel Einfluß | ||||||
04 | auf sein Thun und Lassen verstattet, eher beneiden als geringschätzen. Und | ||||||
05 | so weit muß man gestehen, daß das Urtheil derer, die die ruhmredige Hochpreisungen | ||||||
06 | der Vortheile, die uns die Vernunft in Ansehung der Glückseligkeit | ||||||
07 | und Zufriedenheit des Lebens verschaffen sollte, sehr mäßigen und | ||||||
08 | sogar unter Null herabsetzen, keinesweges grämisch, oder gegen die Güte | ||||||
09 | der Weltregierung undankbar sei, sondern daß diesen Urtheilen ingeheim | ||||||
10 | die Idee von einer andern und viel würdigern Absicht ihrer Existenz zum | ||||||
11 | Grunde liege, zu welcher und nicht der Glückseligkeit die Vernunft ganz | ||||||
12 | eigentlich bestimmt sei, und welcher darum als oberster Bedingung die | ||||||
13 | Privatabsicht des Menschen größtentheils nachstehen muß. | ||||||
14 | Denn da die Vernunft dazu nicht tauglich genug ist, um den Willen | ||||||
15 | in Ansehung der Gegenstände desselben und der Befriedigung aller unserer | ||||||
16 | Bedürfnisse (die sie zum Theil selbst vervielfältigt) sicher zu leiten, als zu | ||||||
17 | welchem Zwecke ein eingepflanzter Naturinstinct viel gewisser geführt haben | ||||||
18 | würde, gleichwohl aber uns Vernunft als praktisches Vermögen, d. i. | ||||||
19 | als ein solches, das Einfluß auf den Willen haben soll, dennoch zugetheilt | ||||||
20 | ist: so muß die wahre Bestimmung derselben sein, einen nicht etwa | ||||||
21 | in anderer Absicht als Mittel, sondern an sich selbst guten Willen | ||||||
22 | hervorzubringen, wozu schlechterdings Vernunft nöthig war, wo anders | ||||||
23 | die Natur überall in Austheilung ihrer Anlagen zweckmäßig zu Werke gegangen | ||||||
24 | ist. Dieser Wille darf also zwar nicht das einzige und das ganze, | ||||||
25 | aber er muß doch das höchste Gut und zu allem Übrigen, selbst allem Verlangen | ||||||
26 | nach Glückseligkeit die Bedingung sein, in welchem Falle es sich | ||||||
27 | mit der Weisheit der Natur gar wohl vereinigen läßt, wenn man wahrnimmt, | ||||||
28 | daß die Cultur der Vernunft, die zur erstern und unbedingten Absicht | ||||||
29 | erforderlich ist, die Erreichung der zweiten, die jederzeit bedingt ist, | ||||||
30 | nämlich der Glückseligkeit, wenigstens in diesem Leben auf mancherlei | ||||||
31 | Weise einschränke, ja sie selbst unter Nichts herabbringen könne, ohne daß | ||||||
32 | die Natur darin unzweckmäßig verfahre, weil die Vernunft, die ihre höchste | ||||||
33 | praktische Bestimmung in der Gründung eines guten Willens erkennt, bei | ||||||
34 | Erreichung dieser Absicht nur einer Zufriedenheit nach ihrer eigenen Art, | ||||||
35 | nämlich aus der Erfüllung eines Zwecks, den wiederum nur Vernunft bestimmt, | ||||||
36 | fähig ist, sollte dieses auch mit manchem Abbruch, der den Zwecken | ||||||
37 | der Neigung geschieht, verbunden sein. | ||||||
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