Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 377

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 konnten, daß die Wissenschaft dadurch um einen Finger breit weiter gebracht      
  02 worden. Sonst Definitionen anspitzen, lahme Beweise mit neuen      
  03 Krücken versehen, dem Cento der Metaphysik neue Lappen oder einen veränderten      
  04 Zuschnitt geben, das findet man noch wohl, aber das verlangt      
  05 die Welt nicht. Metaphysischer Behauptungen ist die Welt satt: man will      
  06 die Möglichkeit dieser Wissenschaft, die Quellen, aus denen Gewißheit in      
  07 derselben abgeleitet werden könne, und sichere Kriterien, den dialektischen      
  08 Schein der reinen Vernunft von der Wahrheit zu unterscheiden. Hiezu      
  09 muß der Recensent den Schlüssel besitzen, sonst würde er nimmermehr aus      
  10 so hohem Tone gesprochen haben.      
           
  11 Aber ich gerathe auf den Verdacht, daß ihm ein solches Bedürfniß      
  12 der Wissenschaft vielleicht niemals in Gedanken gekommen sein mag; denn      
  13 sonst würde er seine Beurtheilung auf diesen Punkt gerichtet und selbst      
  14 ein fehlgeschlagener Versuch in einer so wichtigen Angelegenheit Achtung      
  15 bei ihm erworben haben. Wenn das ist, so sind wir wieder gute Freunde.      
  16 Er mag sich so tief in seine Metaphysik hinein denken, als ihm gut dünkt,      
  17 daran soll ihn niemand hindern; nur über das, was außer der Metaphysik      
  18 liegt, die in der Vernunft befindliche Quelle derselben, kann er nicht      
  19 urtheilen. Daß mein Verdacht aber nicht ohne Grund sei, beweise ich dadurch,      
  20 daß er von der Möglichkeit der synthetischen Erkenntniß a priori,      
  21 welche die eigentliche Aufgabe war, auf deren Auflösung das Schicksal der      
  22 Metaphysik gänzlich beruht, und worauf meine Kritik (eben so wie hier      
  23 meine Prolegomena) ganz und gar hinauslief, nicht ein Wort erwähnte.      
  24 Der Idealism, auf den er stieß, und an welchem er auch hängen blieb,      
  25 war nur als das einige Mittel jene Aufgabe aufzulösen in den Lehrbegriff      
  26 aufgenommen worden (wiewohl er denn auch noch aus andern Gründen      
  27 seine Bestätigung erhielt); und da hätte er zeigen müssen, daß entweder      
  28 jene Aufgabe die Wichtigkeit nicht habe, die ich ihr (wie auch jetzt in den      
  29 Prolegomenen) beilege, oder daß sie durch meinen Begriff von Erscheinungen      
  30 gar nicht, oder auch auf andere Art besser könne aufgelöset werden:      
  31 davon aber finde ich in der Recension kein Wort. Der Recensent verstand      
  32 also nichts von meiner Schrift und vielleicht auch nichts von dem Geist      
  33 und dem Wesen der Metaphysik selbst, wofern nicht vielmehr, welches ich      
  34 lieber annehme, Recensenteneilfertigkeit, über die Schwierigkeit, sich durch      
  35 so viel Hindernisse durchzuarbeiten, entrüstet, einen nachtheiligen Schatten      
  36 auf das vor ihm liegende Werk warf und es ihm in seinen Grundzügen      
  37 unkenntlich machte.      
           
     

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