Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 370

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 zerbrochen oder ein Hausrath verschwunden war, so versteht er den Grundsatz      
  02 und räumt ihn auch ein. Gemeiner Verstand hat also weiter keinen      
  03 Gebrauch, als so fern er seine Regeln (obgleich dieselben ihm wirklich      
  04 a priori beiwohnen) in der Erfahrung bestätigt sehen kann; mithin sie      
  05 a priori und unabhängig von der Erfahrung einzusehen, gehört vor den      
  06 speculativen Verstand und liegt ganz außer dem Gesichtskreise des gemeinen      
  07 Verstandes. Metaphysik hat es ja aber lediglich mit der letzteren      
  08 Art Erkenntniß zu thun; und es ist Gewiß ein schlechtes Zeichen eines gesunden      
  09 Verstandes, sich auf jenen Gewährsmann zu berufen, der hier gar      
  10 kein Urtheil hat, und den man sonst wohl nur über die Achsel ansieht,      
  11 außer wenn man sich im Gedränge sieht und sich in seiner Speculation      
  12 weder zu rathen, noch zu helfen weiß.      
           
  13 Es ist eine gewöhnliche Ausflucht, deren sich diese falsche Freunde      
  14 des gemeinen Menschenverstandes (die ihn gelegentlich hoch preisen, gemeiniglich      
  15 aber verachten) zu bedienen pflegen, daß sie sagen: es müssen      
  16 doch endlich einige Sätze sein, die unmittelbar Gewiß sind, und von denen      
  17 man nicht allein keinen Beweis, sondern auch überall keine Rechenschaft      
  18 zu geben brauche, weil man sonst mit den Gründen seiner Urtheile niemals      
  19 zu Ende kommen würde; aber zum Beweise dieser Befugniß können      
  20 sie (außer dem Satze des Widerspruchs, der aber die Wahrheit synthetischer      
  21 Urtheile darzuthun nicht hinreichend ist) niemals etwas anderes Ungezweifeltes,      
  22 was sie dem gemeinen Menschenverstande unmittelbar beimessen      
  23 dürfen, anführen, als mathematische Sätze: z. B. daß zweimal zwei      
  24 vier ausmachen, daß zwischen zwei Punkten nur eine gerade Linie sei,      
  25 u. a. m.. Das sind aber Urtheile, die von denen der Metaphysik himmelweit      
  26 unterschieden sind. Denn in der Mathematik kann ich alles das durch      
  27 mein Denken selbst machen (construiren), was ich mir durch einen Begriff      
  28 als möglich vorstelle: ich thue zu einer Zwei die andere Zwei nach und      
  29 nach hinzu und mache selbst die Zahl vier, oder ziehe in Gedanken von      
  30 einem Punkte zum andern allerlei Linien und kann nur eine einzige ziehen,      
  31 die sich in allen ihren Theilen (gleichen sowohl als ungleichen) ähnlich ist.      
  32 Aber ich kann aus dem Begriffe eines Dinges durch meine ganze Denkkraft      
  33 nicht den Begriff von etwas anderem, dessen Dasein nothwendig mit      
  34 dem ersteren verknüpft ist, herausbringen, sondern muß die Erfahrung zu      
  35 rathe ziehen; und obgleich mir mein Verstand a priori (doch immer nur      
  36 in Beziehung auf mögliche Erfahrung) den Begriff von einer solchen Verknüpfung      
  37 (der Causalität) an die Hand giebt, so kann ich ihn doch nicht,      
           
     

[ Seite 369 ] [ Seite 371 ] [ Inhaltsverzeichnis ]