Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 366 |
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01 | So viel ist gewiß: wer einmal Kritik gekostet hat, den ekelt auf immer | ||||||
02 | alles dogmatische Gewäsche, womit er vorher aus Noth vorlieb nahm, weil | ||||||
03 | seine Vernunft etwas bedurfte und nichts Besseres zu ihrer Unterhaltung | ||||||
04 | finden konnte. Die Kritik verhält sich zur gewöhnlichen Schulmetaphysik | ||||||
05 | gerade wie Chemie zur Alchymie, oder wie Astronomie zur wahrsagenden | ||||||
06 | Astrologie. Ich bin dafür gut, daß Niemand, der die Grundsätze | ||||||
07 | der Kritik auch nur in diesen Prolegomenen durchgedacht und gefaßt | ||||||
08 | hat, jemals wieder zu jener alten und sophistischen Scheinwissenschaft zurückkehren | ||||||
09 | werde; vielmehr wird er mit einem gewissen Ergötzen auf eine | ||||||
10 | Metaphysik hinaussehen, die nunmehr allerdings in seiner Gewalt ist, | ||||||
11 | auch keiner vorbereitenden Entdeckungen mehr bedarf, und die zuerst der | ||||||
12 | Vernunft daurende Befriedigung verschaffen kann. Denn das ist ein Vorzug, | ||||||
13 | auf welchen unter allen möglichen Wissenschaften Metaphysik allein | ||||||
14 | mit zuversicht rechnen kann, nämlich daß sie zur Vollendung und in den | ||||||
15 | beharrlichen Zustand gebracht werden kann, da sie sich weiter nicht verändern | ||||||
16 | darf, auch keiner Vermehrung durch neue Entdeckungen fähig ist: | ||||||
17 | weil die Vernunft hier die Quellen ihrer Erkenntniß nicht in den Gegenständen | ||||||
18 | und ihrer Anschauung (durch die sie nicht ferner eines Mehreren | ||||||
19 | belehrt werden kann), sondern in sich selbst hat, und, wenn sie die Grundgesetze | ||||||
20 | ihres Vermögens vollständig und gegen alle Mißdeutung bestimmt | ||||||
21 | dargestellt hat, nichts übrig bleibt, was reine Vernunft a priori erkennen, | ||||||
22 | ja auch nur, was sie mit Grunde fragen könnte. Die sichere Aussicht auf | ||||||
23 | ein so bestimmtes und geschlossenes Wissen hat einen besondern Reiz bei | ||||||
24 | sich, wenn man gleich allen Nutzen (von welchem ich hernach noch reden | ||||||
25 | werde) bei Seite setzt. | ||||||
26 | Alle falsche Kunst, alle eitele Weisheit dauert ihre Zeit; denn endlich | ||||||
27 | zerstört sie sich selbst, und die höchste Cultur derselben ist zugleich der Zeitpunkt | ||||||
28 | ihres Unterganges. Daß in Ansehung der Metaphysik diese Zeit | ||||||
29 | jetzt da sei, beweiset der Zustand, in welchen sie bei allem Eifer, womit | ||||||
30 | sonst Wissenschaften aller Art bearbeitet werden, unter allen gelehrten | ||||||
31 | Völkern verfallen ist. Die alte Einrichtung der Universitätsstudien erhält | ||||||
32 | noch ihren Schatten, eine einzige Akademie der Wissenschaften bewegt noch | ||||||
33 | dann und wann durch ausgesetzte Preise, einen und anderen Versuch darin | ||||||
34 | zu machen; aber unter gründliche Wissenschaften wird sie nicht mehr gezählt, | ||||||
35 | und man mag selbst urtheilen, wie etwa ein geistreicher Mann, den | ||||||
36 | man einen großen Metaphysiker nennen wollte, diesen wohlgemeinten, aber | ||||||
37 | kaum von jemanden beneideten Lobspruch aufnehmen würde. | ||||||
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