Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 291 |
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01 | wird, für Begriff vom Gegenstande oder auch der Existenz desselben, | ||||||
02 | die der Verstand nur denken kann, gehalten wird. Den Gang der Planeten | ||||||
03 | stellen uns die Sinne bald rechtläufig, bald rückläufig vor, und hierin | ||||||
04 | ist weder Falschheit noch Wahrheit, weil, so lange man sich bescheidet, daß | ||||||
05 | dieses vorerst nur Erscheinung ist, man über die objective Beschaffenheit | ||||||
06 | ihrer Bewegung noch gar nicht urtheilt. Weil aber, wenn der Verstand | ||||||
07 | nicht wohl darauf Acht hat, zu verhüten, daß diese subjective Vorstellungsart | ||||||
08 | nicht für objectiv gehalten werde, leichtlich ein falsches Urtheil entspringen | ||||||
09 | kann, so sagt man: sie scheinen zurückzugehen; allein der Schein | ||||||
10 | kommt nicht auf Rechnung der Sinne, sondern des Verstandes, dem es | ||||||
11 | allein zukommt, aus der Erscheinung ein objectives Urtheil zu fällen. | ||||||
12 | Auf solche Weise, wenn wir auch gar nicht über den Ursprung unserer | ||||||
13 | Vorstellungen nachdächten und unsre Anschauungen der Sinne, sie mögen | ||||||
14 | enthalten, was sie wollen, im Raume und Zeit nach Regeln des Zusammenhanges | ||||||
15 | aller Erkenntniß in einer Erfahrung verknüpfen: so kann, nachdem | ||||||
16 | wir unbehutsam oder vorsichtig sind, trüglicher Schein oder Wahrheit | ||||||
17 | entspringen; das geht lediglich den Gebrauch sinnlicher Vorstellungen im | ||||||
18 | Verstande und nicht ihren Ursprung an. Eben so wenn ich alle Vorstellungen | ||||||
19 | der Sinne sammt ihrer Form, nämlich Raum und Zeit, für | ||||||
20 | nichts als Erscheinungen und die letztern für eine bloße Form der Sinnlichkeit | ||||||
21 | halte, die außer ihr an den Objecten gar nicht angetroffen wird, | ||||||
22 | und ich bediene mich derselben Vorstellungen nur in Beziehung auf mögliche | ||||||
23 | Erfahrung: so ist darin nicht die mindeste Verleitung zum Irrthum, | ||||||
24 | oder ein Schein enthalten, daß ich sie für bloße Erscheinungen halte; denn | ||||||
25 | sie können dessen ungeachtet nach Regeln der Wahrheit in der Erfahrung | ||||||
26 | richtig zusammenhängen. Auf solche Weise gelten alle Sätze der Geometrie | ||||||
27 | vom Raume eben sowohl von allen Gegenständen der Sinne, mithin | ||||||
28 | in Ansehung aller möglichen Erfahrung, ob ich den Raum als eine | ||||||
29 | bloße Form der Sinnlichkeit, oder als etwas an den Dingen selbst Haftendes | ||||||
30 | ansehe; wiewohl ich im ersteren Falle allein begreifen kann, wie es | ||||||
31 | möglich sei, jene Sätze von allen Gegenständen der äußeren Anschauung | ||||||
32 | a priori zu wissen; sonst bleibt in Ansehung aller nur möglichen Erfahrung | ||||||
33 | alles eben so, wie wenn ich diesen Abfall von der gemeinen Meinung | ||||||
34 | gar nicht unternommen hätte. | ||||||
35 | Wage ich es aber mir meinen Begriffen von Raum und Zeit über | ||||||
36 | alle mögliche Erfahrung hinauszugehen, welches unvermeidlich ist, wenn | ||||||
37 | ich sie für Beschaffenheiten ausgebe, die den Dingen an sich selbst anhingen | ||||||
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