Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 277

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 auf Schlüsse bis zum Erdrücken aufhäufen; wenn er nicht vorher jene      
  02 Frage hat gnugthuend beantworten können, so habe ich Recht zu sagen:      
  03 es ist alles eitele, grundlose Philosophie und falsche Weisheit. Du sprichst      
  04 durch reine Vernunft und maßest dir an, a priori Erkenntnisse gleichsam      
  05 zu erschaffen, indem du nicht blos gegebene Begriffe zergliederst, sondern      
  06 neue Verknüpfungen vorgiebst, die nicht auf dem Satze des Widerspruchs      
  07 beruhen, und die du doch so ganz unabhängig von aller Erfahrung einzusehen      
  08 vermeinst; wie kommst du nun hiezu, und wie willst du dich wegen      
  09 solcher Anmaßungen rechtfertigen? Dich auf Beistimmung der allgemeinen      
  10 Menschenvernunft zu berufen, kann dir nicht gestattet werden; denn das      
  11 ist ein Zeuge, dessen Ansehen nur auf dem öffentlichen Gerüchte beruht.      
  12 Quodcumque ostendis mihi sic, incredulus odi. Horat..      
           
  13 So unentbehrlich aber die Beantwortung dieser Frage ist, so schwer      
  14 ist sie doch zugleich; und obzwar die vornehmste Ursache, weswegen man      
  15 sie nicht schon längst zu beantworten gesucht hat, darin liegt, daß man sich      
  16 nicht einmal hat einfallen lassen, daß so etwas gefragt werden könne, so      
  17 ist doch eine zweite Ursache diese, daß eine gnugthuende Beantwortung      
  18 dieser einen Frage ein weit anhaltenderes, tieferes und mühsameres Nachdenken      
  19 erfordert, als jemals das weitläufigste Werk der Metaphysik, das      
  20 bei der ersten Erscheinung seinem Verfasser Unsterblichkeit versprach. Auch      
  21 muß ein jeder einsehende Leser, wenn er diese Aufgabe nach ihrer Forderung      
  22 sorgfältig überdenkt, anfangs durch ihre Schwierigkeit erschreckt, sie      
  23 für unauflöslich, und gäbe es nicht wirklich dergleichen reine synthetische      
  24 Erkenntnisse a priori, sie ganz und gar für unmöglich halten; welches dem      
  25 David Hume wirklich begegnete, ob er sich zwar die Frage bei weitem      
  26 nicht in solcher Allgemeinheit vorstellte, als es hier geschieht und geschehen      
  27 muß, wenn die Beantwortung für die ganze Metaphysik entscheidend      
  28 werden soll. Denn wie ist es möglich, sagte der scharfsinnige Mann, daß,      
  29 wenn mir ein Begriff gegeben ist, ich über denselben hinausgehen und      
  30 einen andern damit verknüpfen kann, der in jenem gar nicht enthalten ist,      
  31 und zwar so, als wenn dieser nothwendig zu jenem gehöre? Nur Erfahrung      
  32 kann uns solche Verknüpfungen an die Hand geben (so schloß er aus      
  33 jener Schwierigkeit, die er für Unmöglichkeit hielt), und alle jene vermeintliche      
  34 Nothwendigkeit oder, welches einerlei ist, dafür gehaltene Erkenntniß      
  35 a priori ist nichts als eine lange Gewohnheit, etwas wahr zu finden und      
  36 daher die subjective Nothwendigkeit für objectiv zu halten.      
           
  37 Wenn der Leser sich über Beschwerde und Mühe beklagt, die ich ihm      
           
     

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