Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 273 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | annehmen. Alsdann aber hätte er seine metaphysische Sätze keinesweges | ||||||
02 | auf bloße Erfahrung gründen können, weil er sonst die Axiomen | ||||||
03 | der reinen Mathematik ebenfalls der Erfahrung unterworfen haben würde, | ||||||
04 | welches zu thun er viel zu einsehend war. Die gute Gesellschaft, worin | ||||||
05 | Metaphysik alsdann zu stehen gekommen wäre, hätte sie wider die Gefahr | ||||||
06 | einer schnöden Mißhandlung gesichert; denn die Streiche, welche der letztern | ||||||
07 | zugedacht waren, hätten die erstere auch treffen müssen, welches aber seine | ||||||
08 | Meinung nicht war, auch nicht sein konnte: und so wäre der scharfsinnige | ||||||
09 | Mann in Betrachtungen gezogen worden, die denjenigen hätten ähnlich | ||||||
10 | werden müssen, womit wir uns jetzt beschäftigen, die aber durch seinen unnachahmlich | ||||||
11 | schönen Vortrag unendlich würden gewonnen haben. | ||||||
12 | Eigentlich metaphysische Urtheile sind insgesammt synthetisch. | ||||||
13 | Man muß zur Metaphysik gehörige von eigentlich metaphysischen | ||||||
14 | Urtheilen unterscheiden. Unter jenen sind sehr viele analytisch, aber sie | ||||||
15 | machen nur die Mittel zu metaphysischen Urtheilen aus, auf die der Zweck | ||||||
16 | der Wissenschaft ganz und gar gerichtet ist, und die allemal synthetisch | ||||||
17 | sind. Denn wenn Begriffe zur Metaphysik gehören, z. B. der von Substanz, | ||||||
18 | so gehören die Urtheile, die aus der bloßen Zergliederung derselben | ||||||
19 | entspringen, auch nothwendig zur Metaphysik, z. B. Substanz ist dasjenige, | ||||||
20 | was nur als Subject existirt etc., und vermittelst mehrerer dergleichen | ||||||
21 | analytischen Urtheile suchen wir der Definition der Begriffe nahe zu | ||||||
22 | kommen. Da aber die Analysis eines reinen Verstandesbegriffs (dergleichen | ||||||
23 | die Metaphysik enthält) nicht auf andere Art vor sich geht, als die | ||||||
24 | Zergliederung jedes andern, auch empirischen Begriffs, der nicht in die | ||||||
25 | Metaphysik gehört (z. B. Luft ist eine elastische Flüssigkeit, deren Elasticität | ||||||
26 | durch keinen bekannten Grad der Kälte aufgehoben wird), so ist zwar | ||||||
27 | der Begriff, aber nicht das analytische Urtheil eigenthümlich metaphysisch: | ||||||
28 | denn diese Wissenschaft hat etwas Besonderes und ihr Eigenthümliches in | ||||||
29 | der Erzeugung ihrer Erkenntnisse a priori, die also von dem, was sie mit | ||||||
30 | allen andern Verstandeserkenntnissen gemein hat, muß unterschieden werden; | ||||||
31 | so ist z. B. der Satz: alles, was in den Dingen Substanz ist, ist beharrlich, | ||||||
32 | ein synthetischer und eigenthümlich metaphysischer Satz. | ||||||
33 | Wenn man die Begriffe a priori, welche die Materie der Metaphysik | ||||||
34 | und ihr Bauzeug ausmachen, zuvor nach gewissen Principien gesammlet | ||||||
35 | hat, so ist die Zergliederung dieser Begriffe von großem Werthe; auch kann | ||||||
36 | dieselbe als ein besonderer Theil (gleichsam als philosophia definitiva ), | ||||||
37 | der lauter analytische, zur Metaphysik gehörige Sätze enthält, von allen | ||||||
[ Seite 272 ] [ Seite 274 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |