Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 271 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | Der Prolegomenen |
||||||
02 | Allgemeine Frage: |
||||||
03 | Ist überall Metaphysik möglich? |
||||||
04 | § 4. |
||||||
05 | Wäre Metaphysik, die sich als Wissenschaft behaupten könnte, wirklich; | ||||||
06 | könnte man sagen: hier ist Metaphysik, die dürft ihr nur lernen, und | ||||||
07 | sie wird euch unwiderstehlich und unveränderlich von ihrer Wahrheit überzeugen: | ||||||
08 | so wäre diese Frage unnöthig, und es bliebe nur diejenige übrig, | ||||||
09 | die mehr eine Prüfung unserer Scharfsinnigkeit, als den Beweis von der | ||||||
10 | Existenz der Sache selbst beträfe, nämlich wie sie möglich sei, und wie | ||||||
11 | Vernunft es anfange, dazu zu gelangen. Nun ist es der menschlichen Vernunft | ||||||
12 | in diesem Falle so gut nicht geworden. Man kann kein einziges | ||||||
13 | Buch aufzeigen, so wie man etwa einen Euklid vorzeigt, und sagen: das | ||||||
14 | ist Metaphysik, hier findet ihr den vornehmsten Zweck dieser Wissenschaft, | ||||||
15 | das Erkenntniß eines höchsten Wesens und einer künftigen Welt, bewiesen | ||||||
16 | aus Principien der reinen Vernunft. Denn man kann uns zwar viele | ||||||
17 | Sätze aufzeigen, die apodiktisch gewiß sind und niemals gestritten worden; | ||||||
18 | aber diese sind insgesammt analytisch und betreffen mehr die Materialien | ||||||
19 | und den Bauzeug zur Metaphysik, als die Erweiterung der Erkenntniß, | ||||||
20 | die doch unsere eigentliche Absicht mit ihr sein soll (§ 2. litt. c ). Ob ihr | ||||||
21 | aber gleich auch synthetische Sätze (z. B. den Satz des zureichenden Grundes) | ||||||
22 | vorzeigt, die ihr niemals aus bloßer Vernunft, mithin, wie doch eure | ||||||
23 | Pflicht war, a priori bewiesen habt, die man euch aber doch gerne einräumt: | ||||||
24 | so gerathet ihr doch, wenn ihr euch derselben zu eurem Hauptzwecke | ||||||
25 | bedienen wollt, in so unstatthafte und unsichere Behauptungen, daß | ||||||
26 | zu aller Zeit eine Metaphysik der anderen entweder in Ansehung der Behauptungen | ||||||
27 | selbst, oder ihrer Beweise widersprochen und dadurch ihren | ||||||
28 | Anspruch auf daurenden Beifall selbst vernichtet hat. Sogar sind die | ||||||
29 | Versuche, eine solche Wissenschaft zu Stande zu bringen, ohne Zweifel die | ||||||
30 | erste Ursache des so früh entstandenen Scepticismus gewesen, einer Denkungsart, | ||||||
31 | darin die Vernunft so gewaltthätig gegen sich selbst verfährt, | ||||||
32 | daß diese niemals, als in völliger Verzweiflung an Befriedigung in Ansehung | ||||||
33 | ihrer wichtigsten Absichten hätte entstehen können. Denn lange | ||||||
34 | vorher, ehe man die Natur methodisch zu befragen anfing, befrug man | ||||||
[ Seite 270 ] [ Seite 272 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |