Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 263 |
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Text (Kant):
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| 01 | indem man fordert, was man selbst nicht leisten, tadelt, was man doch | ||||||
| 02 | nicht besser machen kann, und vorschlägt, wovon man selbst nicht weiß, wo | ||||||
| 03 | es zu finden ist; wiewohl auch nur zum tüchtigen Plane einer allgemeinen | ||||||
| 04 | Kritik der Vernunft schon etwas mehr gehört hätte, als man wohl vermuthen | ||||||
| 05 | mag, wenn er nicht blos wie gewöhnlich eine Declamation frommer | ||||||
| 06 | Wünsche hätte werden sollen. Allein reine Vernunft ist eine so abgesonderte, | ||||||
| 07 | in ihr selbst so durchgängig verknüpfte Sphäre, daß man keinen | ||||||
| 08 | Theil derselben antasten kann, ohne alle übrige zu berühren, und nichts | ||||||
| 09 | ausrichten kann, ohne vorher jedem seine Stelle und seinen Einfluß auf | ||||||
| 10 | den andern bestimmt zu haben: weil, da nichts außer derselben ist, was | ||||||
| 11 | unser Urtheil innerhalb berichtigen könnte, jedes Theiles Gültigkeit und | ||||||
| 12 | Gebrauch von dem Verhältnisse abhängt, darin er gegen die übrige in der | ||||||
| 13 | Vernunft selbst steht, und wie bei dem Gliederbau eines organisirten | ||||||
| 14 | Körpers der Zweck jedes Gliedes nur aus dem vollständigen Begriff des | ||||||
| 15 | Ganzen abgeleitet werden kann. Daher kann man von einer solchen Kritik | ||||||
| 16 | sagen, daß sie niemals zuverlässig sei, wenn sie nicht ganz und bis auf die | ||||||
| 17 | mindesten Elemente der reinen Vernunft vollendet ist, und daß man | ||||||
| 18 | von der Sphäre dieses Vermögens entweder alles, oder nichts bestimmen | ||||||
| 19 | und ausmachen müsse. | ||||||
| 20 | Ob aber gleich ein bloßer Plan, der vor der Kritik der reinen Vernunft | ||||||
| 21 | vorhergehen möchte, unverständlich, unzuverlässig und unnütz sein | ||||||
| 22 | würde, so ist er dagegen um desto nützlicher, wenn er darauf folgt. Denn | ||||||
| 23 | dadurch wird man in den Stand gesetzt, das Ganze zu übersehen, die | ||||||
| 24 | Hauptpunkte, worauf es bei dieser Wissenschaft ankommt, stückweise zu | ||||||
| 25 | prüfen und manches dem Vortrage nach besser einzurichten, als es in der | ||||||
| 26 | ersten Ausfertigung des Werks geschehen konnte. | ||||||
| 27 | Hier ist nun ein solcher Plan nach vollendetem Werke, der nunmehr | ||||||
| 28 | nach analytischer Methode angelegt sein darf, da das Werk selbst | ||||||
| 29 | durchaus nach synthetischer Lehrart abgefaßt sein mußte, damit die | ||||||
| 30 | Wissenschaft alle ihre Articulationen, als den Gliederbau eines ganz besondern | ||||||
| 31 | Erkenntnißvermögens, in seiner natürlichen Verbindung vor | ||||||
| 32 | Augen stelle. Wer diesen Plan, den ich als Prolegomena vor aller künftigen | ||||||
| 33 | Metaphysik voranschicke, selbst wiederum dunkel findet, der mag bedenken: | ||||||
| 34 | daß es eben nicht nöthig sei, daß jedermann Metaphysik studire, | ||||||
| 35 | daß es manches Talent gebe, welches in gründlichen und selbst tiefen | ||||||
| 36 | Wissenschaften, die sich mehr der Anschauung nähern, ganz wohl fortkommt, | ||||||
| 37 | dem es aber mit Nachforschungen durch lauter abgezogene Begriffe nicht | ||||||
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